Die S2 verlässt den Zürcher Flughafenbahnhof jeden Morgen um 07.06 Uhr. Unterwegs hält der Zug mitten im Pendlerverkehr in Oerlikon und am Hauptbahnhof, bevor er über weitere zehn Bahnhöfe in Richtung Ziegelbrücke rollt.
Die Verbindung hat auf den ersten Blick das Potenzial, oft verspätet zu sein. Doch statt im Zürcher Morgenverkehr aufgehalten zu werden, erreicht der Zug sein Ziel so gut wie immer pünktlich. Besser noch: Im Durchschnitt kommt der Zug einige Sekunden vor der fahrplanmässigen Ankunft um 8:11 Uhr an der Endstation an. Auch unterwegs ist die Verbindung im Schnitt immer deutlich weniger als drei Minuten verspätet. Erst ab drei Minuten bewerten die SBB einen Zug als verspätet.
Und selbst wenn mal etwas nicht läuft, wie es sollte: Eine grössere Verspätung als rund elf Minuten auf der Strecke beziehungsweise rund fünf Minuten am Ziel fährt die S2 im ganzen letzten Fahrplanjahr nie ein. Die Gefahr, einen Zug zu erwischen, der in Ziegelbrücke mit drei oder mehr Minuten Verspätung ankommt, liegt bei unter zwei Prozent.
Die S2 steht damit exemplarisch für ein Zugnetz, das seinesgleichen sucht. CH Media hat alle Verbindungen des gesamten letzten Fahrplanjahrs ausgewertet. In diesem Zeitraum waren 5307 von 5584 untersuchten Verbindungen – das sind fast alle regelmässigen Verbindungen der SBB (siehe «Zu den Daten») – an keinem Bahnhof im Schnitt mehr als drei Minuten verspätet. Das entspricht etwa 95 Prozent.
Am Endbahnhof sind fast 98 Prozent aller Verbindungen im Schnitt immer pünktlich. Ein nicht unerheblicher Teil davon kommt sogar einige Sekunden bis wenige Minuten vor der fahrplanmässigen Ankunft an.
«2024 waren die Züge der SBB so pünktlich wie noch nie», überschreiben die SBB ihre Medienmitteilung zur Publikation der neusten Pünktlichkeitszahlen denn auch zurecht mit etwas Stolz. Doch trotz der guten Werte: Nicht auf dem ganzen Netz sieht es gleich gut aus.
Wer mit dem Nachtzug von Wien nach Zürich reist, sollte sich besser einen Puffer einbauen. Der Zug, der im st.gallischen Buchs zum ersten Mal auf Schweizer Boden hält, kam im letzten Fahrplanjahr im Schnitt rund eine Dreiviertelstunde zu spät in Zürich an. Die grösste registrierte Verspätung betrug gar über dreieinhalb Stunden. Pünktliche Züge gab es nur wenige: Etwa zwei Drittel der Züge trafen verspätet ein. Ein Lichtblick: Immerhin die Hälfte aller Züge bleibt unter zehn Minuten Verspätung.
Nachtzüge scheinen grundsätzlich anfällig. Auch die Züge aus Amsterdam, Hamburg oder Graz sind oft verspätet.
Auch Verbindungen, die tagsüber vom Ausland in die Schweiz führen, sind anfällig für Verspätungen. Der EC aus Venedig, der in der Schweiz die Strecke von Brig nach Genf befährt, wo er um 23:21 Uhr ankommen sollte, kommt in mehr als 75 Prozent der Fälle zu spät am Ziel an. Im Schnitt fährt der Zug mit knapp 20 Minuten Verspätung ein.
Auch weitere Verbindungen, die im Ausland starten, kommen oft verspätet an. Der Railjet aus Bratislava mit Ankunft um 15:20 Uhr in Zürich zum Beispiel zeigt ähnliche Werte wie der EC aus Venedig. Ebenso der Eurocity aus München, der seit Jahren vor allem für die Ostschweiz ein Problem darstellt – und das eigentlich zu allen Tageszeiten.
Die SBB betonen bei verspäteten Zügen oft, dass die Probleme im Ausland und damit ausserhalb ihres Einflussbereiches liegen. Nicht unbegründet. Unter den 277 Verbindungen, die an einem oder mehreren der regelmässigen angefahrenen Bahnhöfen mindestens drei Minuten zu spät sind, befinden sich beispielsweise 36 Eurocity-Verbindungen. Dazu kommen je 13 TGV- und ICE-Verbindungen und 9 Railjets.
Auch unter den weiteren verspätungsanfälligen Verbindungen finden sich internationale Strecken. Der zwischen Stuttgart und Zürich verkehrende Intercity taucht genau so auf wie die Regionalbahn, die aus Deutschland nach Basel fährt, oder Regional- und S-Bahn-Züge im Grenzverkehr. Zu Letzteren zählen beispielsweise der RE33, der zwischen Annemasse und Genf verkehrt, oder die S30, die am Ufer des Lago Maggiore die schweizerisch-italienische Grenze überquert.
Weil hier auf beiden Seiten der Grenze die Datenlage zumindest für einige Bahnhöfe gut ist, lässt sich das Problem gut illustrieren. Züge aus Italien in Richtung Cadenazzo, von wo man nach Bellinzona oder auch Tenero und Locarno weiterfahren kann, kommen sehr oft schon verspätet in der Schweiz an. In der Gegenrichtung zeigt sich: Kaum hat die S30 die Grenze hinter sich gelassen, steigt der Anteil verspäteter Züge deutlich.
Sortiert man die Verbindungen nach der höchsten durchschnittlichen Verspätung an einem der Bahnhöfe auf der Strecke, dauert es einen Moment, bis die erste inländische Verbindung auftaucht. Die S9, die um 22:45 Uhr vom zürcherischen Rafz losfährt und kurz vor Mitternacht in Uster ankommen sollte, zeigt am Bahnhof Rafz im Schnitt eine Verspätung von acht Minuten an.
Aber wie kann es eine Ankunftsverspätung an dem Bahnhof geben, an dem der Zug losfährt? Des Rätsels Lösung: An wenigen Tagen startete die S9 schon in Schaffhausen, was sie sonst eigentlich nur zu anderen Tageszeiten macht. Ironischer Zufall: Wenn die S9 in Schaffhausen startet, verlässt sie unterwegs kurz die Schweiz, um in den deutschen Orten Jestetten und Lottstetten zu halten.
Auch für den nächsten inländischen Zug, der in dieser Liste auftaucht, ergeht ein ähnliches Verdikt. Zwar fährt der letzte IC5, der nachts nach Zürich fährt, in Biel eine durchschnittliche Ankunftsverspätung von über fünf Minuten ein. Im letzten Fahrplanjahr war Biel in der Regel aber der Startbahnhof dieser letzten IC5-Verbindung. Nur vereinzelt startete er schon in Neuchâtel.
Die tatsächlich höchste durchschnittliche Verspätung unter den inländischen Zügen muss ein Intercity für sich beanspruchen, der von Basel um 20:28 Uhr nach Brig verkehrt. In Spiez hat er im Schnitt knappe fünf Minuten Verspätung angehäuft. Das gilt sowohl für die Variante des Zugs, die sonntags über die Lötschberg-Bergstrecke fährt, in Visp nicht hält und in Brig um 23.09 Uhr ankommt, als auch für jene von Montag bis Samstag, die in Visp hält und schon um 22:41 Uhr in Brig ankommt.
Beiden Varianten gemein ist: Sie kommen nur in etwa 80 Prozent der Fälle pünktlich in Brig an.
Die einzige andere inländische Verbindung, die ebenfalls noch in den Top 100 der grössten durchschnittlichen Verspätungen auftaucht, ist der IC5, der um 18:39 Uhr in Rorschach in Richtung Westschweiz losfährt. In Neuchâtel kam dieser Zug im letzten Fahrplanjahr im Schnitt mit etwas mehr als vier Minuten Verspätung an.
Der IC5 taucht auch zu weiteren Tageszeiten noch unter jenen Zügen auf, die an mindestens einem Bahnhof eine Verspätung von durchschnittlich mindestens drei Minuten aufweisen. Allerdings schaffen es die SBB in der Regel, diese Verspätung bis zur Endstation wettzumachen. Daneben einzig noch wirklich auffällig ist die S24 zwischen Zug und Zürich, die zumeist in Zürich Wollishofen verspätet eintrifft. Auch diese Verbindung schafft es aber oft, an der Endstation wieder pünktlich zu sein.
In der nachfolgenden Karte sind die 500 von am meisten Zügen befahrenen Bahnhöfe aufgeführt. Die Farbe des Symbols zeigt die durchschnittliche Ankunftsverspätung aller Züge am jeweiligen Bahnhof, die Grösse des Symbols zeigt den Anteil der verspätet eintreffenden Züge. Mit einem Klick auf ein Symbol lassen sich weitere Angaben einsehen, unter anderem die Medianverspätung.
Die SBB zeigen sich grundsätzlich zufrieden mit den Pünktlichkeitswerten. «Die Herausforderung für die über 35'000 Mitarbeitenden der SBB ist es, auf diesem hohen Niveau zu bleiben», sagt Marino Grisanti, Leiter Pünktlichkeit bei den SBB. Natürlich sei eine Pünktlichkeit von 100 Prozent ein Traum, das sei aber nicht realistisch. «Es gibt Faktoren, die wir nicht beeinflussen können.» Damit diese – oder auch Baustellen – nicht das ganze System aus dem Takt bringen, ist im Fahrplan ein Puffer eingeplant, der auch immer wieder überprüft und allenfalls angepasst wird.
Dieser Puffer ist auch der Grund, warum Züge manchmal etwas zu früh ankommen. Oder warum sie eine Verspätung auf der Strecke bis zum Endbahnhof aufgeholt haben. Grisanti erklärt: «Wir müssen den Puffer oft am Endbahnhof einplanen. Würden wir unterwegs zu viel Luft einbauen, würde ein Zug allenfalls einen Bahnhof blockieren.» Er vergleicht das mit einem Bus, der auch nicht unterwegs am Strassenrand wartet, sondern an einem Endbahnhof, wo er den Verkehr nicht behindert.
Das Ziel der SBB bleibt aber eine Ankunft möglichst genau zur geplanten Zeit. Ist ein Zug zu früh, drosselt der Lokführer nach Möglichkeit die Geschwindigkeit. Das hilft auch, den Energieverbrauch zu optimieren. Dafür haben die SBB eigens eine Pünktlichkeitsanzeige für die Lokführerinnen und Lokführer entwickelt.
Trotz Puffer und Pünktlichkeitsanzeige: Manchmal gerät das System aus dem Takt. Grisanti schildert das am Beispiel des Bahnhofs Museumstrasse, also des Teils im Zürcher Hauptbahnhof, über den die S-Bahnen verkehren: «Hier folgt ein Zug fast unmittelbar auf den nächsten. Wenn einer zu spät losfährt, kann der nächste nicht rechtzeitig einfahren.» Die Folge: Eine Handorgel, wie man sie von Stau auf der Strasse kennt.
Das kann auch auf Fernverkehrsstrecken passieren. Auf den IC6 wirkt sich etwa die hohe Verkehrsdichte zwischen Olten und Bern in Kombination mit dem intensiven Güterverkehr zwischen Bern und Brig aus.
Im Fernverkehr sind es zudem oft internationale Züge, die den SBB Probleme bereiten. Grisanti erwähnt unzureichend ausgebaute oder nicht genügend unterhaltene Infrastruktur in verschiedenen Regionen. Bei der erwähnten S30, die zwischen dem Tessin und Italien verkehrt, gebe es in Italien viele Langsamfahrstellen, um die Infrastruktur zu schonen. An den Grenzbahnhöfen mehr Luft einbauen könne man aber auch nicht, weil dann die Kapazität auf dem Schienennetz merklich sinken würde.
Beim EC aus Venedig sei oft der Knoten Mailand das Nadelöhr. Hier komme es schnell zu Kettenreaktionen. Die Nachbarländer haben deshalb inzwischen vereinzelt Fahrplananpassungen für einige EC vorgenommen.
Dazu komme, dass internationale Züge oft lange Reisen hinter sich haben, was auch die Gefahr für Verspätungen erhöhe. Wo internationale Züge oft verspätet in die Schweiz kommen, stellen die SBB nach Möglichkeit sogenannte Dispozüge zur Verfügung. Diese stehen als inländischer Ersatzzug bereit, die dann rechtzeitig auf dem Schweizer Abschnitt verkehren. (aargauerzeitung.ch)
Da muss man der SBB schon ein Kränzli binden.