Keine zehn Minuten Fussmarsch trennen die beiden Krankenkassen-Hauptsitze unweit des Luzerner Bahnhofs. Doch die geografische Nähe täuscht: Die Welten zwischen der Concordia und der CSS könnten kaum grösser sein, die Ausgangslagen für das traditionelle Herbstgeschäft kaum unterschiedlicher.
Aus einer mehr als vielversprechenden Position startet die mit 610'000 Grundversicherten vergleichsweise kleine Concordia in den Prämienherbst. Sie bietet relativ attraktive Tarife und gehört gar in 18 der insgesamt 42 Prämienregionen zu den drei prämiengünstigsten Kassen überhaupt – und damit in so vielen Prämienregionen wie keine andere Krankenversicherung. Das zeigt eine neue Auswertung des Beratungsunternehmens Deloitte.
Dementsprechend dürfte Concordia nach dem guten Vorjahr mit einem Rekordzuwachs von 71'000 Grundversicherten auch heuer neue, preissensitive Kunden anlocken – und weiter wachsen.
Die Kasse kann sich dieses Wachstum auch leisten, ihr Reservetopf ist gut gefüllt: Ihre Solvenzquote liegt bei 174 Prozent und damit deutlich über der geforderten 100er-Marke. Ganz anders die Situation bei der CSS, der – gemessen an den über 1,5 Millionen Grundversicherten – mit Abstand grössten Kasse der Schweiz. Ihre Reserven sind innert dreier Jahre um fast 1 Milliarde Franken geschrumpft, ihre Solvenzquote von stolzen 205 Prozent auf magere 84 Prozent gefallen, und damit unter das gesetzlich vorgeschriebene Minimum.
Mit einer ungenügenden Solvenzquote steht die CSS aber nicht allein da. Per Anfang Jahr erfüllten 11 Kassen die Vorgaben des Bundes nicht, wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erst jetzt bekannt macht. Darunter sind ein paar sehr kleine Versicherungen, aber eben auch grosse wie die Assura und vier Kassen der Groupe Mutuel (GM).
Anfang 2022 erfüllten noch sämtliche Kassen die Mindestanforderungen, Per 2023 hatten bereits 7 Krankenkassen zu wenig Reserven. Nun sind es also 11 von insgesamt noch existierenden 44 Kassen – und damit jede vierte. Nur 2016 gab es in absoluten Zahlen noch mehr Krankenversicherer mit ungenügenden Reserven. Damals waren es 14 von 63, was einer Quote von 22 Prozent entspricht.
Das BAG, das den Auftrag hat, durch die Überwachung der finanziellen Sicherheit der Kassen die Interessen der Versicherten zu schützen, «beobachtet» die Situation – bei der CSS wie auch bei den anderen Anbietern. Zudem erwartet das Gesundheitsamt eine «Verbesserung der Solvenz bis 2025», wie es auf Anfrage festhält. Denn: «Primär liegt es in der Verantwortung der einzelnen Kassen, Massnahmen zu ergreifen, die wieder zu einer Solvenzquote von 100 Prozent führen.»
Untätigkeit will sich das BAG aber nicht vorwerfen lassen. Krankenkassen mit ungenügender Solvenzquote würden «intensiv beaufsichtigt, indem sie regelmässige finanzielle Reportings an die Aufsichtsbehörde übermitteln müssen», sagt Sprecherin Gabriela Giacometti. Gestützt darauf beobachte und prüfe das BAG die finanzielle Entwicklung sehr genau. Erst wenn eine Kasse «keine oder nur ungenügende Massnahmen» ergreife, ordne die Aufsichtsbehörde eigene Massnahmen an. Diese müssten aber «stets verhältnismässig» sein.
Eine erste solche verhältnismässige Massnahme setzt bei den Prämien für das Folgejahr an. Diese müssen laut BAG von der Kasse so angesetzt werden, dass sie zum Reserveaufbau beitragen. «Das hat das BAG aufgrund der Solvenzquoten auch bei der diesjährigen Prämiengenehmigung so gemacht», ergänzt Giacometti.
Unterjährige Prämienerhöhungen werden erst in einem zweiten Schritt zur Option – wie etwa bei der Zuger Krankenversicherung Klug, die in der Gruppe der ungenügenden Kassen das allerdünnste Reservepolster hatte. Hier mochten die Experten aus dem Gesundheitsamt nicht länger tatenlos zusehen und verordneten per 1. September eine unterjährige Prämienerhöhung für deren Versicherte in den Kantonen Aargau, Luzern, Nidwalden und Zürich. Ein solcher Eingriff ist im historischen Vergleich aber «selten», wie auch das BAG einräumt.
Und ein solcher Fall sollte sich nicht so schnell wiederholen. Für 2025 jedenfalls erwartet das BAG «keinen unterjährigen Prämienanstieg», wie Giacometti sagt. Jedenfalls derzeit nicht. Bei einer sich abzeichnenden Verschlechterung der Lage würden aber die notwendigen Massnahmen ergriffen.
Beim Fall CSS ist das BAG also der Ansicht, dass die Versicherung die Situation selbst wieder in den Griff bekommt. Die Prämienentwicklung bei der grössten Kasse der Schweiz jedenfalls spricht dafür, wie ein Blick in die Deloitte-Auswertung zeigt: So erhöht die CSS ihre Prämien per 2025 überproportional. Im Vergleich zum Vorjahr hat die CSS mit ihrer günstigsten Prämie in 41 von 42 Prämienregionen – und damit fast flächendeckend – an Attraktivität verloren. In einer einzigen Region, in Obwalden, konnte sie ihre Position gegenüber ihrer Konkurrenz halten.
Der Plan steht: «Mit den überdurchschnittlichen Prämienerhöhungen sollen die Reserven wieder aufgebaut werden», sagt auch CSS-Sprecherin Sabine Betschart. Die solvenztechnisch unbefriedigende Situation erklärt die Kasse mit dem vom BAG und vom früheren Gesundheitsminister Alain Berset forcierten Reserveabbau. Die Krankenversicherungen seien angehalten worden, die Prämienaufschläge im Nachgang zur Covid-Krise mittels Reduktion der Reserven abzudämpfen, sagt Betschart.
Dieser Abbau fiel bei der CSS laut eigenen Angaben in eine Periode mit einem überdurchschnittlich hohen Leistungskostenanstieg, einer knappen Prämienkalkulation und geschwächten Finanzmärkten nach der Pandemie. «Für die CSS war klar, dass 2025 ein Aufholjahr wird, was sich in den verschlechterten Positionen der Prämien ablesen lässt», ergänzt Betschart. Die Kasse lege damit die Basis, um in den kommenden Jahren «ihre Politik der unterdurchschnittlichen Prämien konsequent fortzusetzen».
Bei der CSS, die heuer ihren 125. Geburtstag feiert, endet nun das Jubeljahr im Kater – mit hohen Prämien, tiefen Reserven und obendrauf mit einer merklich gesunkenen Kundenzufriedenheit, wie aus der Bewertung der verschiedenen Vergleichsportale von Comparis über Ktipp zu Moneyland hervorgeht. Alles zusammen führe zu einem «perfekten Sturm», wie Deloitte-Gesundheitsexperte Marcel Thom betont. Der Kasse stehe ein schwieriges Jahr bevor.
Reserven abgebaut haben auch andere Kassen – ohne damit beim Solvenztest in den ungenügenden Bereich zu fallen. Riesige Polster haben derzeit jedoch nur noch die wenigsten. Und wie schon in der Vergangenheit war der positive Effekt des Reserveabbaus durch «zu günstige», sprich: nicht kostendeckende Prämien auch diesmal nur von kurzer Dauer. Und auch diesmal führte der Reserveabbau unweigerlich zu überdurchschnittlichen Prämienerhöhungen in den Folgejahren. Denn die Kassen müssen dann nicht nur die Kostensteigerung des aktuellen Jahres einpreisen, sondern auch noch jene der Vorjahre nachholen.
Der Schuldige für die aktuellen Prämienschocks ist schnell gefunden: Alain Berset. Doch er trägt die Verantwortung nicht allein. Denn auch das Parlament machte mächtig Druck: FDP-Nationalrat Philippe Nantermod etwa wollte mit seiner parlamentarischen Initiative vom September 2020 die Kassen zum Reserveabbau verpflichten, sollten diese mehr als 150 Prozent der Mindesthöhe betragen. Auch sein Tessiner Lega-Ratskollege Lorenzo Quadri forderte eine Pflicht zum Reserveabbau – ganz zum Missfallen von Berset.
Der Gesundheitsminister warnte wiederholt vor starken Reserveschwankungen und hohen Prämiensprüngen. Er setzte sich letztlich durch und sorgte dafür, dass der Reserveabbau freiwillig bleibt. Die aktuellen Prämienschocks jedoch konnte er nicht verhindern. (aargauerzeitung.ch)