Der Lohnschutz ist einer der zentralen Knackpunkte in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Weshalb das so ist, zeigt ein Blick auf die durchschnittlichen Monatslöhne in Europa: Die Schweiz liegt mit 5624 Franken deutlich an der Spitze, vor den EWR-Staaten Island (4854) und Norwegen (4743). Luxemburg (4630) folgt als erster EU-Staat auf Rang 4. Den letzten Rang belegt Bulgarien mit 608 Euro.
Die massiven Lohnunterschiede belegen, wie wichtig der Lohnschutz für die Schweiz ist. Und die Differenzen bei den flankierenden Massnahmen waren ein Grund dafür, dass der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen abbrach.
Recherchen zeigen aber nun: Nicht nur die Schweiz hat Differenzen mit der EU-Kommission beim Lohnschutz. Sondern auch die Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten. Vor einem Jahr hat die EU-Kommission gegen 24 von 27 EU-Staaten ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren in die Wege geleitet. Nicht betroffen sind einzig Portugal, Schweden und Spanien. Die Verfahren laufen noch immer. Die Kommission prüft nun die nächsten Schritte, wie eine Kommissionssprecherin sagt.
Die EU-Kommission hat die 24 Staaten schriftlich aufgefordert, die EU-Durchsetzungsrichtlinie zur Entsenderichtlinie von Arbeitnehmern einzuhalten. Es geht darin um die Regeln, an die sich Unternehmen und Arbeitnehmer halten müssen, wenn sie in einem fremden EU-Staat tätig sind. Und um ihre Rechte.
Der Vorwurf an die 24 Staaten: Sie sollen mit ihren nationalen Gesetzgebungen die EU-Durchsetzungsrichtlinie zumindest teilweise verletzen. Die konkreten Vorwürfe gegen die einzelnen Staaten sind geheim - um den Ablauf des Verfahrens nicht zu stören.
Klar wird aber: Auch die Nachbarländer Deutschland und Österreich sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, übertriebenen Lohnschutz zu leisten. Die EU-Kommission wirft ihnen vor, mit verschiedenen Massnahmen die Dienstleistungsfreiheit zu verletzen.
Deutschland steht bei der Kommission im Fokus wegen «exzessiver bürokratischer Hürden» bei den Meldepflichten, heisst es beim deutschen Gewerkschaftsbund. Susanne Wixforth, Referatsleiterin der Abteilung für europäische Gewerkschaftspolitik, sagt, diese seien eine «Grundvoraussetzung, um Schwarzarbeit überhaupt bekämpfen zu können».
Das deutsche Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz will inhaltlich keine Stellung nehmen. Die Korrespondenz unterliege «der Vertraulichkeit». Das Ministerium betont, das Verfahren befinde sich noch auf der ersten Stufe - dem Mahnschreiben. Später folgt die Aufforderung, Übereinstimmung mit dem EU-Recht herzustellen. Und dann der Gang vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH).
Österreich kommuniziert offen. Es musste sein Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz schon einmal revidieren. 2019 hatte der EuGH einige Strafbestimmungen als unverhältnismässig taxiert. Sie wurden angepasst.
Das Anti-Sozialdumping-Gesetz ist nun erneut unter Druck aus Brüssel geraten. Die EU-Kommission habe im Wesentlichen fünf Regelungen kritisiert, schreibt das Arbeitsministerium. Brisant dabei: Die EU-Kommission will zum Beispiel nicht, dass Österreich Unternehmen zeitlich begrenzt von Dienstleistungen ausschliesst, die wegen Verstössen rechtskräftig bestraft wurden. Wie diese Regelung dem Ziel besserer Arbeitsbedingungen von Entsandten diene, sei nicht nachvollziehbar, schreibt die EU-Kommission.
Generell geht es bei den Vertragsverletzungsverfahren in den Artikeln 9, 12 und 20 der Durchsetzungsrichtlinie vor allem um Verletzungen der Dienstleistungsfreiheit. Die Richtlinie betont, Lohnschutzmassnahmen, Kontrollen, Sanktionen und Meldeverfahren müssten verhältnismässig sein verglichen mit der Dienstleistungsfreiheit.
Auch der deutsche Gewerkschaftsbund kommt zum Schluss, dass die Verfahren vor allem Verletzungen der Dienstleistungsfreiheit thematisieren. Wixforth bezieht sich bei ihrer Einschätzung auf den Umsetzungsbericht der EU-Kommission von 2019. Darin werden die Massnahmen der 27 EU-Staaten miteinander verglichen. «Der Umsetzungsbericht zeigt auf, was falsch umgesetzt wird», sagt Wixforth. «Fast alles betrifft die Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit.»
Dieser Artikel regelt die erlaubten Verwaltungsanforderungen und Kontrollmassnahmen. Es geht zum Beispiel um die Daten, die entsendete Unternehmen und Arbeitnehmer liefern müssen: Identität, Zahl entsandter Arbeiter, Dauer der Entsendung, Anschrift des Arbeitsplatzes, Art der Dienstleistung. Gemäss einer Kommissionssprecherin haben aber eine Reihe von Mitgliedstaaten zusätzliche Verwaltungsanforderungen und Kontrollmassnahmen eingeführt, die «weder gerechtfertigt noch verhältnismässig» seien. Damit würde den Unternehmen zusätzlicher Verwaltungsaufwand aufgebürdet. Teilweise behinderten die Massnahmen sogar die Dienstleistungsfreiheit.
Der Artikel besagt: Mitgliedstaaten dürfen zusätzliche Massnahmen zur Bekämpfung von Betrug und Missbrauch ergreifen, um sicherzustellen, dass die Haftungsfrage bei Arbeiten geregelt ist, die von Unterauftraggebern ausgeführt werden. Einige Mitgliedstaaten, hält eine Kommissionssprecherin fest, wendeten die Haftung aber nur in grenzüberschreitenden Fällen an und nicht im Inland selbst. Gemäss EU-Richtlinien ist das eine Diskriminierung.
Sanktionen gegen Verstösse müssten «wirksam, verhältnismässig und abschreckend» sein, hält der Artikel fest. Der Umsetzungsbericht vergleicht die Geldbussen der Mitgliedstaaten. So reicht die Spanne der maximalen Geldbusse pro Arbeitnehmer von 1165 Euro in Malta bis zu 10'000 Euro in Österreich und Finnland. Verschiedene Länder machen die Sanktionen nicht von der Zahl der betroffenen Arbeitnehmer abhängig. Sie sprechen maximale Bussen von 300 Euro (Litauen) bis zu 500'000 Euro (Deutschland) aus. Auch dies zeigt das grosse Gefälle innerhalb der EU. Eine Kommissionssprecherin hält fest, die Verhältnismässigkeit der Sanktionen sei für «einige Mitgliedstaaten» ein Problem.
Gegen einen Drittel der betroffenen Staaten hat die EU-Kommission aber auch Verfahren eingeleitet, weil sie die Arbeitnehmerrechte verletzen sollen. Es geht dabei um das Recht entsandter Arbeitnehmer in Artikel 11, Beschwerde gegen ihre Arbeitgeber zu führen und Gerichts- oder Verwaltungsverfahren einzuleiten. Sie können dabei von Gewerkschaften oder Verbänden und Organisationen vertreten werden. Einige Mitgliedstaaten hätten keine entsprechenden Bestimmungen, sagt eine Kommissionssprecherin.
Susanne Wixforth vom Deutschen Gewerkschaftsbund sagt angesichts der Verfahren der EU-Kommission, sie könne «gut verstehen», dass der Lohnschutz «eine rote Linie ist für die Schweiz». Die teilweise katastrophalen Arbeitsbedingungen, die in der Fleischverarbeitungsindustrie vor allem beim Schlachtbetrieb Tönnies bekannt wurden, seien «nur die Spitze des Eisbergs» in Europa. Wixforth: «In der Schweiz ist die Situation noch anders.»
Auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) fühlt sich bekräftigt in seiner Haltung. Die Verfahren seien «brisant», sagt Sprecher Urban Hodel. «Viele Informationen sind leider immer noch geheim.» Hodel betont: «Der Angriff der Kommission auf die Lohnschutzmassnahmen bestätigt aber unsere Befürchtung, die wir seit Anfang dieser Debatte eingebracht haben.»
Die Verfahren zeigten, betont hingegen Elisabeth Schneider-Schneiter, Mitte-Nationalrätin und Economiesuisse-Vorstandsmitglied, dass die Schweiz einen pragmatischen Umgang damit brauche. «Im Interesse des eigenen Landes müssen wir bereit sein, Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission in Kauf zu nehmen - so wie das auch diese 24 Staaten tun.» (aargauerzeitung.ch)
Hier wird nur dargestellt was der Arbeitnehmer/Angestellte durchschnittlich an Bruttolohn erhält, aber nicht was er wirklich kostet! Bitte berichtigen!