Schweiz
Wirtschaft

Warum Arbeitnehmende trotz mehr Lohn nicht vom Boom profitieren

Aktionist Joachim Ackva praesentiert die 7500 Franken in 10 Noten, welche von einer Hebebuehne auf dem Helvetiaplatz verweilt werden, aufgenommen am Montag, 21. November 2016 in Zuerich. Der Finanzber ...
Für wie viel reicht das noch? Die Inflation frisst viel Kaufkraft wegBild: KEYSTONE

Die Löhne steigen – doch nicht alle profitieren gleich (wenn überhaupt)

Eine neue Umfrage der Konjunkturforschungsstelle KOF zeigt, in welchen Branchen es wie viel mehr Lohn geben könnte – und ob die Gewerkschaften schlecht verhandelt haben.
25.10.2022, 09:48
Niklaus Vontobel / ch media
Mehr «Schweiz»

«Die Schweiz befindet sich in einem vergleichsweise heissen, weil umstrittenen Lohnherbst», schreibt die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich in ihrer neuesten Wirtschaftsprognose. Jüngste Beispiele sind ein knapp abgewendeter Streik der Swiss-Piloten und eine sich nun abzeichnende Konfrontation mit den Cockpit-Angestellten. Auf dem Bau wird ebenfalls heftig gerungen, in Bellinzona kam es zu Protesten. Und der Chef des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Pierre-Yves Maillard, hat klargemacht, die Lohnerhöhungen müssten zumindest die Teuerung ausgleichen - das gebiete allein schon ein «Mindestmass an Anstand».

Hintergrund des umstrittenen Lohnherbstes ist ein boomender Arbeitsmarkt, der so manche eindrückliche Zahl geliefert hat. 128'000 Stellen waren beispielsweise Ende Juni unbesetzt, schreibt die KOF – «das ist mit Abstand die höchste Zahl offener Stellen, die am Schweizer Arbeitsmarkt je gezählt wurde». Zugleich entstanden enorm viel neue Vollzeitstellen: von Juni 2021 bis Juni 2022 waren es 127'000 – was annähernd der Bevölkerung der Stadt Bern entspricht. Und nicht zuletzt: die Arbeitslosenquote fiel im September auf 1.9 Prozent – der tiefste Stand seit über 20 Jahren.

Der Boom hat die Machtverhältnisse verschoben. Arbeitnehmende können glaubhaft mit einem Jobwechsel drohen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden, da viele Arbeitgeber geradezu verzweifelt nach Personal suchen. Wie die KOF schreibt, erreichen «verschiedene Indikatoren zum Fachkräftemangel und Rekrutierungsschwierigkeiten zuvor unbekannte Höhen». Auf dem Bau und im Gastgewerbe klagt fast die Hälfte der Betriebe, sie hätten zu wenig Personal.

Zugleich wissen die Unternehmen nur zu gut, was es für sie bedeutet, sollten unzufriedene Mitarbeitende kündigen. Sie müssen lange nach einem Ersatz suchen, Geld ausgeben für Stelleninserate, neue Mitarbeitende erst einarbeiten, ihnen vielleicht ohnehin mehr Lohn zahlen als den früheren Mitarbeitenden - und in der Zwischenzeit verlieren sie womöglich Umsatz. Es sind gute Zeiten für Mitarbeitende, schlechte Zeiten für personalsuchende Unternehmen.

Die Inflation ist nicht für alle gleich

Tatsächlich gehen die Löhne hoch, wie eine Umfrage der KOF unter Unternehmen zeigt. Im Schnitt, über alle Branchen hinweg, werden sie um 2.2 Prozent zunehmen. Einen Ausreisser gibt es: Im Gastgewerbe dürfte es ein Plus von 4.4 Prozent geben – also fast das Doppelte dessen, was im Durchschnitt aller Branchen ausgehandelt wird. Zu diesen Lohnzahlen ist die KOF durch eine Umfrage gelangt, in der 4500 Betriebe angaben, wie sich bei ihnen die Bruttolöhne entwickeln werden in den nächsten 12 Monaten. Hohe Lohnzuwächse sind demnach auch zu erwarten in der Uhren- und Datenverarbeitungsindustrie. Hingegen stehen enttäuschende Lohnrunden an bei Versicherern und Detailhändlern: Der Lohnzuwachs bleibt hier deutlich unter 2 Prozent.

Grafik: Was der Lohnherbst bringen könnte.
Bild: KOF / Grafik: ch media / let

Ein Lohnzuwachs von 2.2 Prozent klingt nicht schlecht. Mancher Arbeitnehmende dürfte sich freuen, wenn auf dem Lohnausweis eine höhere Zahl steht. Doch zugleich wird gerade alles teurer. Ein typischer Haushalt wird um die 3 Prozent mehr ausgeben müssen für alle Waren und Dienstleistungen. Und ein grosser Kostenbrocken kommt noch obendrauf, die Prämien für die Krankenversicherungen, die nächstes Jahr um durchschnittlich 6.6 Prozent steigen. Zudem trifft es einige Haushalte viel härter, als es Durchschnittszahlen suggerieren. Für Strom zum Beispiel zahlt ein typischer Haushalt nächstes Jahr im schweizweiten Schnitt genau 27 Prozent mehr, im Kanton Zürich etwa gleich viel, im aargauischen Oberlunkhofen jedoch 263 Prozent mehr.

Haben die Gewerkschaften schlecht verhandelt?

Unter dem Strich bleibt daher eine eher ernüchternde Lohnrunde. Wie die KOF in ihrer Prognose schreibt, wird das Lohnplus zwar die Teuerung decken, mehr nicht, aber auch nicht weniger: «Die Löhne werden von 2022 bis 2023 in etwa gleich steigen, wie die Konsumentenpreise.» Das kann man aus Sicht der Arbeitnehmenden als Misserfolg sehen, aber auch als Erfolg. Ein Erfolg ist es im Vergleich zu anderen Ländern, etwa Deutschland. Die Inflation ist dort mit zuletzt 10 Prozent ungleich höher als in der Schweiz, weshalb ein massiver Verlust an Kaufkraft droht. Jedoch kann man die Lohnrunde in der Schweiz auch als Enttäuschung werten. Ohne die hohe Inflation wäre bei einem solch boomenden Arbeitsmarkt ein besserer Abschluss möglich gewesen.

Oder haben die Gewerkschaften schlecht verhandelt? Solche Fragen werden in Deutschland oder den USA heftig diskutiert, da einige Statistiken auf einen massiven Anstieg der Unternehmensgewinne hindeuten. Demnach wäre die hohe Inflation nicht allein dadurch verursacht worden, dass die Energiepreise stark gestiegen sind, Lebensmittel teurer wurden und Lieferketten stockten. Nein, die Unternehmen hätten die Gunst der schweren Stunde genutzt, um höhere Gewinne durchzusetzen. Doch in der Schweiz kann man sich Empörung über derartiges sparen, zumindest laut KOF Konjunkturforschungsstelle. Denn die Unternehmen haben ihren Anteil an der gesamten Wertschöpfung nicht erhöht, also am Bruttoinlandprodukt. Im Gegenteil, gemessen an diesem Kuchen ist der Lohnanteil gar leicht gestiegen.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
30 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Nik G.
25.10.2022 11:18registriert Januar 2017
Und der Gesundheitssektor gehört zu den Verlierer. Super! Ist ja nicht so das dort eine Krise ist. Aber wir können ja klatschen das ist Lohn genug....
295
Melden
Zum Kommentar
30
André Maeder hat einen neuen Job – er gilt als Warenhausprofi
Der Schweizer Manager steht seit kurzem einer der prestigeträchtigsten Warenhausgruppen als Chef vor. Insider haben eine Erklärung dafür.

Die Detailhandelswelt ist ein Dorf. Und so tauchen immer wieder die gleichen Namen auf, wenn es darum geht, einen frei gewordenen Chefposten zu besetzen - ganz egal, wie durchzogen ihre bisherige Bilanz ist. Neustes Beispiel: André Maeder. Er sei «sehr glücklich und stolz darauf», seit Anfang Mai CEO der Selfridges Group in London zu sein, teilte dieser am Mittwoch via Linkedin mit.

Zur Story