«Die Schweiz befindet sich in einem vergleichsweise heissen, weil umstrittenen Lohnherbst», schreibt die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich in ihrer neuesten Wirtschaftsprognose. Jüngste Beispiele sind ein knapp abgewendeter Streik der Swiss-Piloten und eine sich nun abzeichnende Konfrontation mit den Cockpit-Angestellten. Auf dem Bau wird ebenfalls heftig gerungen, in Bellinzona kam es zu Protesten. Und der Chef des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Pierre-Yves Maillard, hat klargemacht, die Lohnerhöhungen müssten zumindest die Teuerung ausgleichen - das gebiete allein schon ein «Mindestmass an Anstand».
Hintergrund des umstrittenen Lohnherbstes ist ein boomender Arbeitsmarkt, der so manche eindrückliche Zahl geliefert hat. 128'000 Stellen waren beispielsweise Ende Juni unbesetzt, schreibt die KOF – «das ist mit Abstand die höchste Zahl offener Stellen, die am Schweizer Arbeitsmarkt je gezählt wurde». Zugleich entstanden enorm viel neue Vollzeitstellen: von Juni 2021 bis Juni 2022 waren es 127'000 – was annähernd der Bevölkerung der Stadt Bern entspricht. Und nicht zuletzt: die Arbeitslosenquote fiel im September auf 1.9 Prozent – der tiefste Stand seit über 20 Jahren.
Der Boom hat die Machtverhältnisse verschoben. Arbeitnehmende können glaubhaft mit einem Jobwechsel drohen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden, da viele Arbeitgeber geradezu verzweifelt nach Personal suchen. Wie die KOF schreibt, erreichen «verschiedene Indikatoren zum Fachkräftemangel und Rekrutierungsschwierigkeiten zuvor unbekannte Höhen». Auf dem Bau und im Gastgewerbe klagt fast die Hälfte der Betriebe, sie hätten zu wenig Personal.
Zugleich wissen die Unternehmen nur zu gut, was es für sie bedeutet, sollten unzufriedene Mitarbeitende kündigen. Sie müssen lange nach einem Ersatz suchen, Geld ausgeben für Stelleninserate, neue Mitarbeitende erst einarbeiten, ihnen vielleicht ohnehin mehr Lohn zahlen als den früheren Mitarbeitenden - und in der Zwischenzeit verlieren sie womöglich Umsatz. Es sind gute Zeiten für Mitarbeitende, schlechte Zeiten für personalsuchende Unternehmen.
Tatsächlich gehen die Löhne hoch, wie eine Umfrage der KOF unter Unternehmen zeigt. Im Schnitt, über alle Branchen hinweg, werden sie um 2.2 Prozent zunehmen. Einen Ausreisser gibt es: Im Gastgewerbe dürfte es ein Plus von 4.4 Prozent geben – also fast das Doppelte dessen, was im Durchschnitt aller Branchen ausgehandelt wird. Zu diesen Lohnzahlen ist die KOF durch eine Umfrage gelangt, in der 4500 Betriebe angaben, wie sich bei ihnen die Bruttolöhne entwickeln werden in den nächsten 12 Monaten. Hohe Lohnzuwächse sind demnach auch zu erwarten in der Uhren- und Datenverarbeitungsindustrie. Hingegen stehen enttäuschende Lohnrunden an bei Versicherern und Detailhändlern: Der Lohnzuwachs bleibt hier deutlich unter 2 Prozent.
Ein Lohnzuwachs von 2.2 Prozent klingt nicht schlecht. Mancher Arbeitnehmende dürfte sich freuen, wenn auf dem Lohnausweis eine höhere Zahl steht. Doch zugleich wird gerade alles teurer. Ein typischer Haushalt wird um die 3 Prozent mehr ausgeben müssen für alle Waren und Dienstleistungen. Und ein grosser Kostenbrocken kommt noch obendrauf, die Prämien für die Krankenversicherungen, die nächstes Jahr um durchschnittlich 6.6 Prozent steigen. Zudem trifft es einige Haushalte viel härter, als es Durchschnittszahlen suggerieren. Für Strom zum Beispiel zahlt ein typischer Haushalt nächstes Jahr im schweizweiten Schnitt genau 27 Prozent mehr, im Kanton Zürich etwa gleich viel, im aargauischen Oberlunkhofen jedoch 263 Prozent mehr.
Unter dem Strich bleibt daher eine eher ernüchternde Lohnrunde. Wie die KOF in ihrer Prognose schreibt, wird das Lohnplus zwar die Teuerung decken, mehr nicht, aber auch nicht weniger: «Die Löhne werden von 2022 bis 2023 in etwa gleich steigen, wie die Konsumentenpreise.» Das kann man aus Sicht der Arbeitnehmenden als Misserfolg sehen, aber auch als Erfolg. Ein Erfolg ist es im Vergleich zu anderen Ländern, etwa Deutschland. Die Inflation ist dort mit zuletzt 10 Prozent ungleich höher als in der Schweiz, weshalb ein massiver Verlust an Kaufkraft droht. Jedoch kann man die Lohnrunde in der Schweiz auch als Enttäuschung werten. Ohne die hohe Inflation wäre bei einem solch boomenden Arbeitsmarkt ein besserer Abschluss möglich gewesen.
Oder haben die Gewerkschaften schlecht verhandelt? Solche Fragen werden in Deutschland oder den USA heftig diskutiert, da einige Statistiken auf einen massiven Anstieg der Unternehmensgewinne hindeuten. Demnach wäre die hohe Inflation nicht allein dadurch verursacht worden, dass die Energiepreise stark gestiegen sind, Lebensmittel teurer wurden und Lieferketten stockten. Nein, die Unternehmen hätten die Gunst der schweren Stunde genutzt, um höhere Gewinne durchzusetzen. Doch in der Schweiz kann man sich Empörung über derartiges sparen, zumindest laut KOF Konjunkturforschungsstelle. Denn die Unternehmen haben ihren Anteil an der gesamten Wertschöpfung nicht erhöht, also am Bruttoinlandprodukt. Im Gegenteil, gemessen an diesem Kuchen ist der Lohnanteil gar leicht gestiegen.