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50'000 Saisonnier-Kinder lebten laut Studie versteckt in der Schweiz

50'000 Saisonnier-Kinder lebten laut Studie versteckt in der Schweiz

13.11.2022, 17:2313.11.2022, 18:39
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Die Zahl der versteckten Kinder von Gastarbeitern in der Schweiz ist laut einer Studie höher als bisher angenommen. 50'000 Saisonnier-Kinder lebten dieser Untersuchung zufolge von 1949 bis 1975 im Geheimen hierzulande.

Der Migrationshistoriker Toni Ricciardi sagte gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA:

«Der Einfluss der Zuwanderung in der Schweiz wird oft unterschätzt und ist in Wirklichkeit höher als in einem Land wie den USA»

Ricciardi hat im Rahmen eines Projekts des Nationalen Forschungsprogramms die Fälle von italienischen Gastarbeitern untersucht, die bis zu 90 Prozent der Saisonniers ausmachten. Die «NZZ am Sonntag» berichtete am Sonntag als erste über die Studie.

Das 1934 eingeführte Saisonnierstatut erlaubte es den Gastarbeitern, neun Monate pro Jahr in der Schweiz zu leben. Kinder durften nur während drei bis sechs Monaten bei ihnen sein, je nach Kanton. Das führte zu häufig schmerzhaften Trennungen: Die Kinder mussten entweder in ihrem Heimatland bleiben oder versteckt in der Schweiz leben. 2002 wurde das Saisonnierstatut abgeschafft.

Bauarbeiter spitzen waehrend den Bauarbeiten an der Bahnhofunterfuehrung und der Ladenpassage Shopville unter dem Bahnhofplatz in Zuerich, Schweiz, den Asphalt zwischen den Tramgleisen am Anfang der B ...
Saisonniers vor dem Hauptbahnhof Zürich.Bild: KEYSTONE

Zehntausende Betroffen

Offizielle Angaben zur Zahl der versteckten Kinder gibt es nicht und Ricciardi gibt an, überrascht zu sein, dass ein Land wie die Schweiz zu diesem Phänomen so wenig Zahlenmaterial habe. Bisher schätzten Historikerinnen und Historiker dieZahl der Saisonnierskinder auf 10'000 bis 15'000. Doch auch die Zahl von 50'000 erfasse nicht die ganze Dimension des Problems.

Der Genfer Historiker geht davon aus, dass eine halbe Million Minderjährige von den Trennungen betroffen waren, welche das Saisonnierstatut mit sich brachte. In Italien lebten die Kinder oft bei den Grosseltern oder in Heimen.

Versteckt zu leben bedeutete auch, nicht zur Schule gehen zu können. Mit der Zeit veränderten sich allerdings die Verhältnisse. Die Zivilgesellschaft setzte sich dafür ein, dass die Saisonnier-Kinder zur Schule gehen konnten und medizinisch versorgt wurden, etwa im Kanton Neuenburg. Manchmal drückten die Behörden laut Ricciardi bewusst ein Auge zu. Dennoch herrschte Angst.

Entschädigungsforderungen

Die familiären Trennungen hinterliessen bei den Betroffenen zahlreiche Spuren. Hilfe bietet in diesen Fällen ein im vergangenen Herbst in Zürich gegründeter Verein mit dem Namen Tesoro. Er fordert laut «NZZ am Sonntag» eine historische Aufarbeitung, eine Entschuldigung der Schweizer Behörden und eine finanzielle Entschädigung.

Für Historiker Ricciardi sind allfällige Entschädigungen in diesem Zusammenhang aber nicht das Wichtigste. Für ihn geht es zuerst einmal darum, die Geschichte der Saisonnier-Kinder bekannt zu machen.

(yam/sda)

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19 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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mMn
13.11.2022 18:53registriert September 2020
Ginge es nach der SVP wäre das immernoch so.
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Maya Eldorado
13.11.2022 19:36registriert Januar 2014
Das Saisonnierstatut dauerte bis 2002. Unglaublich!
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Gummibär
13.11.2022 18:17registriert Dezember 2016
"Eine Entschuldigung der Schweizer Behörden und eine finanzielle Entschädigung." dafür, dass Arbeitssuchenden aus Italien die Möglichkeit geboten wurde der Armut zu entkommen. Ich habe als junger Svhweizer 1963-1968 auf Baustellen der N-3, dem Kraftwerk Mattmark und der Nord-Süd Transit-Gaspipeline als Baumaschinenführer und Polier in den gleichen Baracken und Kantinen wie meine italienischen und türkischen Kollegen gelebt - ohne Familie und mit dem gleichen Ziel : in kurzer Zeit eine erkleckliche Summe beiseite zu legen. Schweizer die zur See gingen waren in der gleichen Lage.
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