Ein letztes Mal noch hatte man mit Widerstand gerechnet: Die JUSO Zürich hatte Stadtrat Wolff gestern dazu aufgefordert, die Polizei zurückzuhalten, falls es bei der Räumung des Zürcher Nagelhauses zu einem Aufstand kommen würde. Falls sich, nach jahrelangem Rechtsstreit doch noch Einzelne weigern würden, aus dem maroden Altbau an der Pfingstweidstrasse im Kreis Fünf auszuziehen. Donnerstag, 30. Juni, 12 Uhr mittags – die Frist war gesetzt.
Zwei Stunden vor dem Auszugstermin weht kein Hauch von Widerstand. Geschäftsleute hetzen durch den Nieselregen, Lieferanten kurven ums Häuschen herum, die vier Security-Mitarbeiter, die die Räumung überwachen, trinken Kaffee aus Kartonbechern. «Alles läuft prima», sagen sie und nicken. «Nette Bewohner!». Was sie davon halten, dass dieses Haus wegmuss? «Sagen wir nicht. Wir machen hier nur unseren Job.»
Immer wieder tauchen die letzten Bewohner aus dem Nagelhaus auf, mal ein Bild in der Hand, «Ins Auto? Auf den Müllhaufen.», mal einen Koffer hinter sich her ziehend, die Köpfe gesenkt, die Mienen finster. «Es wird hässlich aussehen hier. So wie überall. ‹Gentrifiggi› halt», sagt einer, schnippt die Zigarette in den Garten und hievt eine Kommode in den Truck. Reden will er nicht mehr darüber, über den Knatsch mit den Behörden, den Kampf bis vor Bundesgericht, die verlorene Hoffnung. «Wir ziehen jetzt einfach aus.»
Mit dem Auszug aus dem markanten Altbau aus dem Jahr 1893 verschwindet das Pièce de Résistance aus dem Zürcher Trendquartier. Das Haus steht der geplanten neuen Zufahrt zum Maag-Areal im Weg, die man mit etwas Flexibilität und Sinn für bauliche Diversität auch um das Gebäude herum hätte leiten können. Elf Jahre lang wehrten sich die Bewohner gegen die Baupläne. Vergeblich. Sie scheiterten samt alternativem Bauplan des berühmtesten «Nagelhäuslers», Willy Horber, am Bundesgericht.
Rund um das Nagelhaus hat die Stadt Neubauten hingepflanzt, das Renaissance-Hotel, das Geschäftshaus 51, Wohnhäuser mit teuren Apartments, leeren Balkonen und wenig Charme. Inmitten dieser modernen Häuserfratzen wirkt der Altbau klein und schwach. Im untersten Stock ist eine Scheibe eingeschlagen, die Häuserkanten bröckeln. Ein Teil des Gebäudes wurde bereits vor Jahren abgerissen, seither stützt eine mächtige Stahlkonstruktion die fensterlose Wand, die den Schriftzug «La Résistance» trägt.
«Ich mochte die Surrealität dieses Quartiers», sagt Florian Leu, der zweieinhalb Jahre hier lebte. «Der Moment, wenn man nach dem Gang durch die Betonwüste unser kleines Vogelhäuschen erblickt.» Schön sei's gewesen, aber jetzt komme halt etwas Neues, sagt Leu. Die Nagelhäusler, die noch nicht so lange da sind, wussten um die Geschichte, um die wacklige Zukunft ihres Zuhauses. Schwieriger ist der Auszug für jene, die längere Zeit hier lebten.
Thomas Baumann ist sofort anzumerken, dass er seit Jahren wütend ist. Wütend auf die Stadt, die ihm nach 13 Jahren das Dach über dem Kopf nahm. Wütend, weil die städtischen Behörden vor dem Kanton kuschten. Wütend, weil sie auf Vorrat Baulinien bewilligten, die keinen Sinn machten. «Die haben gezielt so geplant, dass sie den sogenannten Schandfleck wegräumen können», sagt Baumann.
Machte denn das Leben im Nagelhaus überhaupt noch Sinn, so zwischen lärmigen Baustellen und hässlichen Bürowürfeln? «750 Franken für drei Zimmer, wo kriege ich das denn?», fragt Baumann zurück und erzählt von seiner Badewanne in der Küche. «Du badest am Morgen, nebenan brutzelt das Frühstück auf dem Herd. Das werde ich vermissen.» Baumann schultert seinen Reiserucksack und greift nach zwei mit Büchern gefüllten Tragtaschen. «Ich werde jetzt zum Couchsurfer», sagt er. Sein Nachbar lehnt aus dem Fenster und klopft zum letzten Mal die Bialetti-Kaffeemaschine in den Garten aus.
Kurz vor 12 Uhr ist die Räumung fertig. Traurig stehen sie zusammen im Garten, die Nagelhäusler, der Pöstler bringt Post, «zum letzten Mal, hä?!», der von der Stadt enteignete Besitzer, der ebenfalls bis vor Kurzem im Haus gelebt hat, schüttelt allen die Hand und nimmt die Schlüssel entgegen. Die JUSO sind doch noch gekommen, sie hängen ein Transparent in den Garten und stehen verlegen neben dem Haus. «Achtung Gefahr, hier wird gentrifiziert.»
In wenigen Tagen werden Spezialisten der Stadt das asbesthaltige Haus sanieren, damit es abgerissen werden kann. Dann verschwindet der Schandfleck, ein Symbol des Widerstands, das Zuhause von 14 Menschen. Das Trüppchen im Garten löst sich auf, der Besitzer dreht eine letzte Runde, zwei Bewohner lenken ihren Truck aus der Einfahrt und steuern hupend davon.
Auf der Strasse vor dem Haus hämmern Bauarbeiter mit ohrenbetäubendem Lärm ein Loch in den Teer.