Hamid steht hinter der Verkaufstheke, er streckt den Rücken, sperrt die Augen auf, lächelt nervös. In wenigen Stunden weiht der 31-jährige Afghane, leicht untersetzte Statur, Aufenthaltsstatus B, mit einem Apéro seinen Kiosk im Hauptbahnhof Zürich offiziell ein.
Der Laden, «Kiosk ZHB» in fetten Lettern, blau und rot auf weissem Grund, im Untergeschoss der Löwenstrassenhalle, hat seit Anfang August offen. Heute steigt die Party. Endlich. Sein eigenes Geschäft. Hamid, kariertes, blaues Kurzarmhemd, keine Haare, hellbraune Augen, ist am Ziel. Zumindest vorläufig.
«‹Win for life?› haben wir gerade nicht», sagt Hamid einer Kundin, die an diesem Freitag kurz vor Mittag seine Ladentheke ansteuert. «Schauen Sie, wir haben Lose. Hier. ‹Win for life› erst wieder im nächsten Monat. Tut mir sehr leid.»
Die Geschichte Hamids ist vielleicht eine wie viele, vielleicht aber auch nicht. 1984, der afghanische Bürgerkrieg tobt, kommt Hamid in Herat zur Welt. Die Familie flieht, Hamid wächst im Iran auf, bis im September 2001 zwei Flugzeuge die Türme des World Trade Centers zum Einstürzen bringen, die Bush-Regierung Taliban-Stellungen zerbomben lässt und Hamid zusammen mit über einer Million afghanischer Flüchtlinge in sein Land zurückkehren kann.
Hamid, inzwischen 20 Jahre alt, eröffnet einen kleinen Lebensmittelladen in Herat, doch es ist schwierig, er kennt keine Leute in der Stadt, pendelt zwischen Job und Familie. Anschläge und Militärinterventionen bedrohen das Leben der Menschen in Afghanistan weiterhin. Gemeinsam mit seiner Frau, einer Iranerin, beschliesst er irgendwann, nach Europa zu fliehen. Über den Landweg – «wie jeder».
Am 8. Januar 2009 steigt Hamid, 24-jährig, in Begleitung seiner Frau, nachts aus dem Laderaum eines Lastwagens.
Lausanne.
Kaffee darf Hamid nicht verkaufen in seinem Kiosk, weil nebenan bereits eine Cafeteria ist. Ausschliesslich Kioskware durfte es aber auch nicht sein, «Vorschrift», seufzt Hamid, deshalb liegt jetzt Schmuck in zwei Vitrinen, für die er nicht bezahlen musste, weil sie der vorherige Mieter nicht mehr wollte. Genauso wie die Verkaufstheke, die ihm ein Freund in Bellinzona geschreinert hat. «Wenig Kapital, viele Tricks», lacht Hamid. «Geschäfte machen können wir Iraner.»
Geschäfte machen möchte Hamid am liebsten schon, als er 2009 in Lausanne aus dem Lastwagen steigt, doch er darf nicht arbeiten. Aufenthaltsbewilligung N, Asylbewerber im Asylverfahren. Hamid und seine Frau wechseln von Asylzentrum zu Asylzentrum, kommen schliesslich nach Zürich, eine Wohnung im Kreis 5, eine Dusche und vier Wände, keine Küche, «kein irgendwas».
Die Hälfte seiner Zeit verbringt Hamid in Deutschkursen, an den anderen Tagen arbeitet er als Putzkraft und Abwart im Schulhaus Hardau, baut Kontakte zu Iranern auf, die er von früher kennt, schmiedet Pläne, träumt Träume. 2011 erteilt das Migrationsamt Hamid und seiner Frau eine Absage.
Sans Papier.
Illegal lebt das Paar drei Jahre lang weiter in Zürich, arbeitet schwarz, bis die Polizei am 20. September 2014 um 2 Uhr nachts die Wohnung stürmt und Hamid auf den Posten mitnimmt.
Doch Hamid, seit fünf Jahren in der Schweiz, nahezu perfektes Deutsch, tadelloser Leumund, kann nicht ausgeschafft werden – er gilt als Härtefall. Nach zwei Tagen darf er aus dem Gefängnis raus, vier Monate später, am 23. Januar 2015, erhalten er und seine Frau die Aufenthaltsbewilligung B.
Hamid heuert bei einem Teppichhändler an, einem Iraner, flickt, schleppt und verkauft Teppiche. Wenn er frei hat, träumt er vom eigenen Geschäft, schaut sich nach Lokalen um, holt sich Tipps von anderen Kioskbesitzern. Nach ein paar Monaten stösst er endlich auf ein Inserat, das ihm passt. Homegate, Ladenfläche im Zürcher Hauptbahnhof, ab Juli 2016.
Es kommen wenige Kunden so kurz vor Mittag, Hamid verkauft drei Packungen Parisienne mild, «wollen Sie eine Tüte oder geht's?». Wenige Minuten später betritt ein Mann den Laden, fragt nach dem Chef, «sie können mit mir reden», sagt Hamid und verschwindet mit ihm um die Ecke. Der Mann habe nach einem Job gefragt, das passiere ständig. Irgendwann will Hamid expandieren und Leute einstellen, «wenn das Geld dann reicht», Ausländer mit Arbeitsbewilligung oder Schweizer, «wenn ich mir die leisten kann.»
Und dann, endlich, will Hamid Geld auf die Seite legen und seine Familie im Iran besuchen. Seine Augen werden wässerig. «Ich bin zufrieden, aber der Druck ist gross. Wäre mein Land sicher, wäre ich nicht hier.»