Olympische Spiele sind für fast jede Sportlerin und jeden Sportler das grösste Ziel der Laufbahn. Meist träumen Athletinnen und Athleten von klein auf davon, einmal teilnehmen zu können – und sie träumen von einer Medaille und davon, Olympiasiegerin oder Olympiasieger zu werden. Doch dieser Traum erfüllt sich nur für einen verschwindend kleinen Teil aller Profisportler weltweit.
Damit er Realität wird, muss am Tag X alles, wirklich alles passen. Das allgemeine Leistungsvermögen sowieso, aber auch die Tagesform – sich bloss nicht im Flugzeug nach Japan erkälten! – und das Wettkampfglück. Je nach Sportart kann man vielleicht von einer günstigen Auslosung profitieren, aber genauso möglich ist der Sturz einer Konkurrentin unmittelbar vor einem, der auch die eigenen Medaillenträume platzen lässt. Kommt hinzu, dass grosser Druck manchen lähmt, andere wiederum aber beflügeln kann.
Vor diesem Hintergrund ist es äussert schwierig, Prognosen über den Ausgang olympischer Wettkämpfe zu machen. Klar wird mit einem Blick auf das 115 Sportlerinnen und Sportler starke Schweizer Aufgebot für Tokio 2020, dass das Ziel «7 plus» ambitioniert, aber zu erreichen ist.
Grundlage für diese Aussage ist die Faustregel, wonach es für einen Medaillengewinn drei Kandidaten braucht. Weil aus den erwähnten Gründen nicht jeder vermeintliche Trumpf stechen wird.
Die Weltrangliste führt der Berner ganz zuoberst als Nummer 1 an. In dieser Saison gewann Flückiger zwei Weltcup-Rennen, er ist Führender im Gesamtweltcup. Nach WM-Silber 2019 und 2020 strebt er nun eine Olympia-Medaille an. «Ich habe schon alle geschlagen», sagt er selbstbewusst.
Hauptkonkurrent dürfte der Niederländer Mathieu van der Poel sein. Das Multitalent, das zu Beginn der Tour de France das Maillot Jaune trug und im Winter zum vierten Mal Cross-Weltmeister wurde, hat sich bei Olympia für das Mountainbike- und gegen das Strassenrennen entschieden. Auf breiten Pneus war er schon Europameister.
Der Bündner legte bei Olympischen Spielen einen Steigerungslauf hin: 2008 gewann er Bronze, 2012 Silber und 2016 in Rio Gold. Nun will es der 35-jährige Altmeister noch einmal wissen, doch die Konkurrenz hat aufgeholt. Schurter scheint nicht mehr ganz so stark zu sein wie einst – wobei das immer noch zu einer Medaille reichen kann. Sein langjähriger Teamchef Thomas Frischknecht jedenfalls sagt: «Er ist besser ‹zwäg›, als es die Resultate vermuten lassen.»
Im Einzel, aber besonders auch mit der Equipe, ist das Podest das Ziel der Schweizer Reiter. Martin Fuchs und Steve Guerdat, Einzel-Olympiasieger 2012, belegen in der Weltrangliste die Ränge 2 und 3 hinter Daniel Deusser aus Deutschland.
Eine oder sogar zwei Medaillen im Einzel sind kein Ding der Unmöglichkeit. Im Team gehört die Schweiz bei zehn startenden Nationen zu den stärksten. Allerdings lässt der neue Modus keine Patzer mehr zu: Statt vier Reiter starten nur noch drei, ein Streichresultat gibt es nicht mehr. Das erhöht den Druck. Mit nach Tokio reisen Routinier Beat Mändli und Senkrechtstarter Bryan Balsiger; wer zum Einsatz kommt, wird vor Ort entschieden.
Ach ja, die Schweizer Fechter. Vor jeden Olympischen Spielen betonen sie selber, wie gut sie sind und werden entsprechend zu Medaillengaranten geschrieben. Und dann: nichts als Enttäuschungen, seit Marcel Fischer 2004 Olympiasieger wurde. Die Fechter sind das beste Beispiel dafür, dass herausragende Leistungen an Welt- und Europameisterschaften oder im Weltcup keine Garantie für Olympia-Erfolge sind.
Besonders im Team-Wettkampf rechnen sich die Degenfechter dieses Mal Chancen aus. Die Routiniers Benjamin Steffen (39 Jahre) und Max Heinzer (33) treten gemeinsam mit Michele Niggeler (29) und Lucas Malcotti (26) an. 2018 gewann dieses Quartett WM-Gold. Dieses Mal dämpft Heinzer zu hohe Erwartungen, er sagt: «Für eine Medaille muss alles zusammenpassen. Wenn es nicht klappt, geht das Leben auch weiter. Aber eine Olympia-Medaille wäre das i-Tüpfelchen.»
Die beiden sind aktuelle Europameisterinnen und haben als Ziel für Tokio die Halbfinals ausgerufen. Drei der vier Teams dort haben eine Medaille auf sicher. Eine Standortbestimmung gibt es bereits in der Gruppenphase, wo Heidrich/Vergé-Dépré auf die kanadischen Weltmeisterinnen Sarah Pavan/Melissa Humana-Parades treffen.
Im Beachvolleyball-Turnier der Frauen kommen aus Vierergruppen die jeweils zwei besten Teams weiter, dazu vier von sechs Gruppendritten. Danach beginnt das K.o.-Turnier mit den Achtelfinals.
Die Disziplin BMX Racing lässt sich als eine Art Skicross auf Rädern beschreiben. Womit klar ist, dass in dieser Sportart, wo Ellbogen an Ellbogen gekämpft wird, Glück und Sturzpech einen Einfluss haben können. David Graf und Simon Marquart haben in diesem Jahr beide erstmals im Weltcup gewonnen. Bei den Frauen tritt Zoé Claessens als Europameisterin an. Für eine Medaille müssen Viertel-, Halb- und Finalläufe erfolgreich bestritten werden.
Der dritte Wettkampf mit Schweizer Medaillenchancen ist jener im Freestyle der Frauen. Dort werden in einem Hindernisparcours Tricks aufgeführt und in dieser Disziplin ist die Genferin Nikita Ducarroz Vize-Weltmeisterin und Nummer 2 der Weltrangliste. Vielleicht geht es nicht in jedem BMX-Bewerb auf, aber eine Schweizer Medaille liegt in jedem von ihnen drin.
Europameister 2018, Vize-Weltmeister 2019, Vize-Europameister 2021 – in seiner Paradedisziplin 200 Meter Lagen ist Jérémy Desplanches seit Jahren top. Er hat das Zeug, um als erster Schweizer Schwimmer seit Etienne Dagon 1984 in Los Angeles eine Olympia-Medaille zu gewinnen.
«Ich habe fünf Jahre lang wie verrückt trainiert und alles beiseite gelegt, was ich konnte. Das ist es, was mich an meine Podestchancen glauben lässt», sagte der in Nizza lebende Westschweizer. Ihm sei bewusst, dass Olympische Spiele nochmals etwas anderes seien als EM und WM. Aber er glaubt an seine Chance: «Ich bin in der Lage, eine Medaille zu gewinnen. Aber das werden die anderen sieben Finalisten auch sein.» Nur schon den Endlauf zu erreichen, ist kein Selbstläufer: Desplanches zählt 12 oder 13 Kandidaten für die acht Plätze.
Die Erfahrung zeigt, dass es immer wieder Athleten gibt, denen just am Tag X der Wettkampf des Lebens gelingt. Von den Schweizer Einzelsportlerinnen und -sportlern und Teams haben auch diese hier aufgeführten reelle Aussichten auf Edelmetall – sofern wirklich alles aufgeht:
Beachvolleyball: Nina Betschart/Tanja Hüberli.
Das Duo belegte 2019 an der WM Rang 4.
Judo: Fabienne Kocher.
An der WM 2021 gewann sie Bronze.
Judo: Nils Stump.
An der EM 2021 gewann er Bronze.
Kanu, Kajak-Einer: Martin Dougoud.
Gewann letztes Jahr ein Weltcuprennen.
Kanu, Kanadier-Einer: Thomas Koechlin.
Gewann 2019 den Test-Event in Tokio.
Karate: Elena Quirici.
Pro Gewichtsklasse treten nur zehn Athletinnen an, die ersten zwei einer Fünfergruppe kommen in die Halbfinals.
Hochsprung: Salome Lang.
Sprang zuletzt Schweizer Rekord von 1,97 m, ist damit die Nummer 5 der Jahres-Weltbestenliste. Sie muss aber auf Patzer der konstanter auf hohem Niveau springenden Konkurrenz hoffen.
Hochsprung: Loïc Gasch.
Sprang mit 2,33 m ebenfalls Schweizer Rekord, ist die Nummer 4 der Jahres-Weltbestenliste. Viele Springer sind auf diesem Niveau nah beisammen.
Mountainbike: Jolanda Neff, Sina Frei.
Neff fährt nach einer schweren Verletzung nicht mehr so stark wie einst, kann dafür unbeschwert an den Start gehen. Frei ist Sechste des Gesamtweltcups, schaffte es aber noch nie auf ein Podest.
Rad, Bahn: Bahnvierer.
Das Quartett um Strassenprofi Stefan Bissegger rechnet sich Chancen aus. Aber es wird schwierig, an der WM im vergangenen Jahr reichte es zu Rang 6.
Rad, Strasse, Zeitfahren: Marlen Reusser.
Die Quereinsteigerin gewann 2019 das Zeitfahren der Europaspiele und im vergangenen Jahr WM-Silber.
Rad, Strasse, Zeitfahren: Stefan Küng.
Der Thurgauer zählt im Kampf gegen die Uhr zu den Besten der Welt.
Rad, Strasse: Marc Hirschi, Gino Mäder.
Die Konkurrenz auf einem harten Kurs mit vielen Höhenmetern ist gross, aber nur eine Woche nach dem Ende der Tour de France dürfte es da und dort Fragezeichen um den Formstand geben.
Ringen: Stefan Reichmuth.
Gewann 2019 WM-Bronze, eine Medaille liegt drin für den Freistil-Ringer.
Rudern: Doppelzweier.
Barnabé Delarze sagt klar: «Unser Traum ist Gold, nicht irgendeine Medaille.» Sein Partner Roman Röösli ist zurückhaltender und sagt, neun bis zehn Boote hätten die Chance auf Edelmetall.
Rudern: Jeannine Gmelin.
Sie ist nicht mehr so bestechend wie noch vor einigen Jahren, aber mit Sicherheit eine, welche die Konkurrenz im Skiff im Auge haben muss.
Schiessen: Nina Christen, Heidi Diethelm-Gerber.
In diesem Sport ist die Leistungsdichte besonders gross, Millimeter werden entscheiden. Beide Schweizer Schützinnen treten in jeweils zwei Bewerben an – vielleicht klappt es wieder mit einer Medaille, wie sie Diethelm-Gerber 2016 in Rio gewann.
Windsurfen: Mateo Sanz Lanz.
Holte 2017 genau dort WM-Silber, wo die olympischen Segel- und Windsurf-Bewerbe stattfinden, in Enoshima. 2019 beim olympischen Test-Event belegte er Rang 6.
Tennis: Belinda Bencic, Viktorija Golubic.
Sorry für den abgelutschten Spruch, aber er stimmt: Im Frauentennis ist alles möglich.
Triathlon: Nicola Spirig.
Topfavoritin ist die Zürcherin mit 39 Jahren nicht mehr, eine Medaille liegt aber absolut in Reichweite.
Triathlon: Max Studer.
Wurde unlängst Europameister über die Super-Sprint-Distanz.
Triathlon: Mixed-Staffel.
In diesem neuen Bewerb ist mit der Schweiz zu rechnen.
Turnen: Giulia Steingruber.
War zuletzt angeschlagen. Muss am Sprung perfekt liefern und auf Patzer der schwieriger turnenden Konkurrenz hoffen, dann kann es klappen.
Turnen: Pablo Brägger.
Der Reck-Europameister 2017 könnte an seinem Paradegerät für eine Überraschung sorgen.
(Mit Informationen von Keystone-SDA)