Beim Schlusspfiff gegen Aufsteiger Sheffield United stand Mauricio Pochettino durchnässt und ein wenig bedröppelt an der Seitenlinie des neuen, hypermodernen Tottenham Hotspur Stadiums. Wahrscheinlich wusste er da schon, was ihm blühte: der Rauswurf nach 293 Pflichtspielen als Cheftrainer der «Spurs».
Dieser wurde dann am Dienstag vollzogen – und stiess besonders in Deutschland auf ein enormes Medienecho. Denn mit Bayern München ist der renommierteste Klub des Landes auf der Suche nach einem neuen Trainer. Mindestens bis Weihnachten soll allerdings Interimslösung Hansi Flick die Geschicke beim Rekordmeister leiten.
Was Flick abgeht: Er ist kein Trainer von internationalem Ruf. Und genau an dieser Stelle kommt Pochettino ins Spiel, denn dieses internationale Renommee hat sich der ehemalige argentinische Nationalspieler in den vergangenen Jahren auf besondere Weise erarbeitet: Zu Beginn seiner Trainerlaufbahn vor rund zehn Jahren rettete Pochettino das akut abstiegsbedrohte Espanyol Barcelona vor dem Fall in die zweite Liga und etablierte das Team im Tabellenmittelfeld; dann wechselte er 2013 zum FC Southampton und schaffte dort Ähnliches; dadurch qualifizierte er sich für einen Wechsel zu den «Spurs» und legte dort 2014 richtig los.
Unter der Ägide des 47-Jährigen mauserten sich die Nord-Londoner von einer Durchschnittsmannschaft zu einem der heissesten Teams Europas. Das Erfolgsgeheimnis: Vergleichsweise geringe Fluktuation, ein junger Kern, der gemeinsam zusammenwachsen konnte und zu einer verschworenen Einheit wurde. Unter Pochettino entwickelten sich Transferschnäppchen wie der französische Weltmeister-Torhüter Hugo Lloris, die Mittelfeld-Genies Dele Alli und Christian Eriksen sowie Stürmer Heung-min Son und England-Captain Harry Kane zu absoluten Leistungsträgern und teilweise sogar Weltstars.
Der Clou: Weil die «Spurs» auch wegen des teuren neuen Stadions teilweise resolut aufs Geld achten mussten, war keiner der oben genannten Profis teurer als 30 Millionen Euro. Statt von Real Madrid oder Juventus Turin kamen diese Neuzugänge von Ajax Amsterdam, Milton Keynes oder Bayer Leverkusen.
Genau das wünschen sie sich beim FC Bayern eigentlich auch. Zwar drangen die Münchner im Sommer mit den Verpflichtungen von Lucas Hernandez (für 85 Millionen Euro von Atletico Madrid ) und der Leihe von Philippe Coutinho (für 8.5 Millionen vom FC Barcelona; mit Kaufoption über 120 Millionen Euro) in neue Dimensionen vor. In der Liga der steinreichen Scheichklubs aus Manchester und Paris oder den Real Madrids und FC Barcelonas dieser Welt können und wollen die Münchener in Sachen Ablösesummen aber nicht mitspielen. Von daher würde Pochettino optimal ins Profil passen. Er braucht nicht zwangsläufig einen 100-Millionen-Transfer, um ein europäisches Top-Team zu entwickeln und schafft es zudem, seine Schützlinge an sich zu binden – denn Weltstars wie Eriksen, Alli oder Kane haben regelmässig lukrativere Offerten ausgeschlagen.
Gaffer. I’ll be forever thankful to you for helping me achieve my dreams. We’ve had some amazing moments in the last 5 and a half years that I will never forget. You were my manager but my friend as well and I thank you for that relationship. Good luck with your next chapter! 💙 pic.twitter.com/u64RXV7wd4
— Harry Kane (@HKane) November 20, 2019
Das wiederum soll besonders Bayern-Sportdirektor Hasan Salihamidzic, der in seiner aktiven Karriere selbst alles andere als ein Wandervogel war und fast ein Jahrzehnt für Bayern kickte, gefallen. «Brazzo» soll laut der «Bild» ein grosser Fan von Pochettino sein und sich bereits mit diesem getroffen haben – und zwar schon während Pochettinos Zeit bei den «Spurs», wie der «Kicker» schreibt. Demnach sei Pochettino bereits zur Zeit der Verpflichtung von Ex-Coach Niko Kovac im Sommer 2018 ein Kandidat bei den Münchnern gewesen.
Mit dazu beigetragen hat sicherlich, dass den ehemaligen «Mentalitätsspieler» Salihamidzic die besondere Einstellung Tottenhams beeindruckt haben dürfte. Egal wie aussichtslos die Situation oft war, Pochettinos Team glaubte bis zur allerletzten Sekunde an sich. Das Meisterstück: Nach einer 0:1-Heimniederlage und einem 0:2-Halbzeitrückstand im vergangenen Champions-League-Halbfinale gegen Ajax, gewann Tottenham die Partie noch mit 3:2 – inklusive Entscheidungstreffer in der sechsten Minute der Nachspielzeit.
Fraglich ist derweil, ob Salihamidzics Begeisterung für Pochettino auch zu einer Verpflichtung führen wird. Denn: Nach dem Rückzug von Vereinspatron Uli Hoeness als Präsident soll Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge ein gewichtiges Wort bei der Auswahl des neuen Trainers mitreden. Und gerade hier könnte es schwierig werden. Rummenigge schätzt Pochettinos offensiven Spielansatz. Doch eben jener Ansatz sorgte auch dafür, dass ausgerechnet der FC Bayern die Londoner Anfang Oktober in der Champions-League-Vorrunde mit 7:2 zerlegte.
Auch in der Liga war die Defensive zuletzt arg wackelig. In zwölf Premier-League-Spielen kassierten die Spurs bereits 17 Gegentreffer. Tottenham gewann nur eine der letzten sieben Ligapartien und ist Tabellen-14. Zum Vergleich: Zuletzt kamen die Nord-Londoner am Saisonende auf 39, 36, 26 sowie 35 Gegentore und stellten zweimal die beste und zweimal die drittbeste Defensive der Premier League.
Ein weiterer Punkt, der gegen Pochettino spricht, sind seine Sprachkenntnisse. Zwar spricht der 47-Jährige Spanisch und Englisch – allerdings kein Deutsch. Laut «Kicker» soll das bei den Bayern allerdings gefordert sein. Bei einem Einstieg in der Winterpause dürfte es zwangsläufig ein paar Monate dauern, bis sich Pochettino die Grundzüge der Sprache angeeignet hat.
Und hier liegt natürlich ein Vorteil von Hansi Flick, der zudem im Team beliebt ist – und auch die Fans hinter sich zu haben scheint. Bei der Jahreshauptversammlung spendeten ihm die rund 6'000 anwesenden Klubmitglieder minutenlangen und intensiven Applaus. Unter anderem auch, weil er die Bayern mit zwei Siegen in Folge stabilisiert hat, wobei besonders das überzeugende 4:0 gegen den Rivalen Borussia Dortmund Balsam auf die Fan-Seele war.
Nicht nur deshalb sagte Rummenigge, dass Flick «bis Weihnachten und möglicherweise darüber hinaus» weitermachen werde. Deshalb bringt die «Bild» eine interessante weitere Variante ins Spiel: Flick könnte bis Saisonende übernehmen und dann – zugunsten von Pochettino – zurück ins zweite Glied rücken. Der Argentinier hätte so genug Zeit, Deutsch zu lernen und könnte sich zudem intensiv auf die neue Aufgabe in München vorbereiten.
Was diese Option unwahrscheinlich macht: Zum Sommer würden wohl auch die Chancen auf eine Verpflichtung von Amsterdams Erik ten Hag steigen. Ajax’ Erfolgstrainer wurde nach der Kovac-Entlassung von mehreren Münchner Medien als Wunschkandidat der Bayern gehandelt, hatte einen Wechsel mitten in der Saison allerdings kategorisch ausgeschlossen.