Roman Josi hat mittlerweile auch Cale Makar überholt in der Skorerliste der NHL-Verteidiger. Mit seinen dominanten Auftritten im Jahr 2022 hat sich der Berner Verteidiger mitten ins Rennen um die Norris Trophy katapultiert. Die Auszeichnung wird jedes Jahr an den «NHL-Verteidiger mit den besten Allrounder-Fähigkeiten» verliehen.
Doch weil es eben auch noch eine Handvoll anderer Verteidiger gibt, die in dieser Saison überragende Leistungen zeigen, ist alles andere als sicher, wer die Trophäe am Ende erhält. Wir wollen schauen, wer Stand jetzt die besten Karten hätte. Dafür beurteilen wir die Kandidaten in fünf verschiedenen Kategorien.
In den vergangenen Jahren war es oft so, dass der Verteidiger mit den meisten Skorerpunkten am Ende auch die Norris Trophy erhielt. Die Stimmen vergeben jeweils Journalisten der «Professional Hockey Writers’ Association» (PHWA). Und da gibt es viele, die bei Spielern, die sie nicht oft beobachtet haben, den einfachsten Ausweg nehmen und sich an den Skorerpunkten orientieren.
Absolute Ligaspitze. Mit aktuell 72 Skorerpunkten hat Josi nicht nur mehr Punkte geholt als jemals zuvor ein Schweizer in der NHL, er ist im Moment auch der beste Verteidiger überhaupt in dieser Kategorie. 17 Tore und bereits 55 Assists hat der Berner gesammelt. Mit der aktuellen Pace würde er Ende Saison beinahe die 100-Punkte-Marke knacken.
Lässt man die Punkte im Powerplay weg, führt Josi die Liga vor Makar mit 44 Skorerpunkten an.
Cale Makar (Colorado Avalanche), der immer noch als heissester Kandidat auf die Norris Trophy gilt, folgt direkt hinter Josi mit 66 Punkten. Auch Adam Fox (New York Rangers) und Victor Hedman (Tampa Bay Lightning) überzeugen in dieser Spalte.
Theoretisch fallen Skorerpunkte natürlich auch unter die Kategorie des offensiven Einflusses. Hier wollen wir aber noch etwas mehr in die Details gehen. Wie viele Tore fallen, wenn die Verteidiger auf dem Eis stehen? Wie viele sollten fallen? Wie oft schiessen sie selbst und wie häufig legen sie für ihre Mitspieler auf? Der moderne Verteidiger kann eben nicht nur verteidigen, sondern auch das Spiel nach vorne prägen.
Ein watson-User hat es kürzlich in der Kommentarspalte perfekt geschrieben: «Wenn du Josi im Team hast, spielst du quasi mit 2 Verteidigern und 3,5 Stürmern.» Der Captain der Nashville Predators ist der vielleicht beste Offensiv-Verteidiger der Welt. Keiner der ernsthaften Norris-Kandidaten schiesst häufiger als der Berner. Und auch bei den Shot Assists – also Pässen, die zu Torschüssen eines Mitspielers führen – und Chance Assists – Pässen, die zu Torchancen eines Mitspielers führen – kann ihm kaum jemand das Wasser reichen.
Bei den On-Ice-Expected-Goals reicht es dem Berner nicht ganz zur Ligaspitze: Wenn Josi 60 Minuten auf dem Eis stehen könnte, würden die Predators aufgrund der herausgespielten Chancen durchschnittlich 2,53 Tore erzielen. Dafür steht er bei den offensiven Werten in den Goals Above Replacement (GAR) – einer Art Gesamtstatistik, die den Wert eines Spielers gegenüber einem durchschnittlichen Ersatzspieler berechnet – ganz oben.
Mit Aaron Ekblad auf dem Eis würden die Florida Panthers in 60 Minuten Eiszeit 3,22 Tore erzielen – das ist der mit Abstand beste Wert der Norris-Kandidaten. Der Kanadier kann aber bei den Shot Assists und Chance Assists deutlich nicht mit Josi mithalten. In dieser Sparte kommt ihm der junge Quinn Hughes von den Vancouver Canucks am nächsten. Cale Makar, Josis grösster Konkurrent im Kampf um die Norris Trophy, mag nicht in allen Kategorien mit dem Schweizer mithalten.
Es steht schon in der Job-Beschreibung: Ein Verteidiger müsste natürlich in erster Linie mal gut verteidigen können. Allerdings ist das, gerade in einem dynamischen Sport wie Eishockey, viel schwieriger statistisch festzumachen als beispielsweise die offensive Produktion.
Roman Josi spielt auch in der eigenen Zone eine solide Saison, obwohl er gegenüber den zwei vorherigen Jahren etwas nachgelassen hat. Ein Manko in dieser Hinsicht ist das Unterzahlspiel. Dort kommt der Nashville-Captain im Vergleich zu seiner Konkurrenz weniger zum Einsatz und spielte bislang auch nicht besonders gut.
Ebenfalls ein Problem ist, dass Josi etwas viele Strafen nimmt. Er hat in der bisherigen Saison fünf Strafen mehr verursacht, als er herausgeholt hat. Aber es ist nicht alles schlecht: Der Verteidiger blockt viele Schüsse und leistet sich nur wenige Puckverluste in der eigenen Zone.
Der beste Defensiv-Verteidiger der zehn ernsthaften Norris-Kandidaten ist Devon Toews von den Colorado Avalanche. Er blockt viele Schüsse, leistet sich kaum Puckverluste in der eigenen Zone und lässt ganz grundsätzlich die wenigsten gegnerischen Chancen.
Auch Victor Hedman und Cale Makar mischen in dieser Kategorie ganz vorne mit. Makar ist einer der wenigen Verteidiger, die mehr Strafen herausholen, als sie selber nehmen.
Einen modernen NHL-Verteidiger zeichnet auch aus, dass er das Spiel gut aufbauen kann. Dazu gehört, die Scheibe kontrolliert aus der eigenen Zone und ebenso kontrolliert in die gegnerische Zone zu bringen.
Roman Josi ist einer der besten Skater unter den NHL-Verteidigern. Das Umschaltspiel nach vorne ist eine seiner grössten Stärken. Er schafft es nicht nur, den Puck oft in die offensive Zone zu tragen, sondern kreiert dabei häufiger als alle anderen NHL-Verteidiger auch noch Torchancen für sich selbst und seine Mitspieler.
Bei den Zone Exits kann Roman Josi nicht ganz mit seiner Konkurrenz mithalten. Zwar bringt der Schweizer die Scheibe oft aus der eigenen Zone, aber nur in etwas weniger als 70 Prozent der Fälle tut er dies kontrolliert. Das bedeutet, dass Josi auch immer wieder die Scheibe einfach raus spielt, ohne einen kontrollierten Spielaufbau zu forcieren.
Beim Spielaufbau in die offensive Zone gehören Cale Makar, Victor Hedman und Quinn Hughes ebenfalls zu den absoluten Spitzenverteidigern. Hughes trägt die Scheibe zwar deutlich weniger oft als Josi in die gegnerische Zone, aber wenn er es macht, wird es meist gefährlich.
Auch bei den Zone Exits ist Cale Makar absolute Ligaspitze. Zwar kommt er von den zehn Norris-Kandidaten auf die zweitwenigsten Zone Exits pro 60 Minuten Eiszeit. Aber wenn er die Scheibe aus der eigenen Zone bringt, tut er dies in mehr als 90 Prozent der Fälle kontrolliert und in Scheibenbesitz. Auch Torontos Morgan Rielly kann in dieser Sparte Spitzenwerte vorweisen.
Für die Journalisten der PHWA ist es auch wichtig, dass ein Norris-Trophy-Kandidat viel Verantwortung übernimmt. Das bedeutet: Viel Eiszeit und das in allen Situationen: Überzahl, Unterzahl und bei numerischem Gleichbestand (Even-Strength/EV).
Dass der Captain bei Nashville eine Menge Verantwortung übernimmt, ist unbestritten. Josi steht bei numerischem Gleichstand pro Spiel mehr als 21 Minuten auf dem Eis – mehr als jeder seiner Konkurrenten. Auch in Überzahl wird er regelmässig eingesetzt. Was Josi dieses Jahr abgeht, sind Einsätze in Unterzahl. Trainer John Hynes scheint seinen Leistungsträger schonen zu wollen für den Rest des Spiels und setzt ihn im Penalty-Killing nur selten ein.
Der Verteidiger mit der meisten Eiszeit ist Pittsburghs Kris Letang, der in allen Situationen viele Einsätze erhält. In Unterzahl ist Colorados Devon Toews der Schwerstarbeiter. Und im Powerplay erhält niemand mehr Eiszeit als Washingtons John Carlson.
Die aktuell 72 Skorerpunkte in 59 Spielen von Roman Josi lassen sich nicht ignorieren. Der Berner ist auch dieses Jahr einer der heissesten Anwärter auf die «James Norris Memorial Trophy». Seine offensive Produktion sucht seinesgleichen. Der offensive Einfluss mit Schüssen und Schuss-Assists ist genau so überragend wie sein Transition-Spiel.
Dennoch wird – Stand jetzt – weiterhin Cale Makar als Topfavorit auf die Auszeichnung angesehen. Der Youngster der Colorado Avalanche hat in der eigenen Zone noch etwas die besseren Resultate vorzuweisen als Josi und wird auch mehr in Unterzahl eingesetzt. Wenn Josi allerdings in diesem Mass weiter punktet, kann das Pendel am Ende doch zugunsten Josis ausschlagen.