Zehn Jahre lang dürfen Urin- und Blutproben von Sportlern aufbewahrt werden. Innerhalb dieser Frist können Antidoping-Behörden sie ein zweites Mal von einem Labor analysieren lassen. Neuste Apparate, verfeinerte Messmethoden und längere Nachweisfenster sorgen dafür, dass aus einem negativen Befund Jahre später doch noch ein positiver Fall werden kann.
Das Internationale Olympische Komitee hat diese Nachtests zum Erfolg werden lassen. An den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking und 2012 in London blieben nachträglich nicht weniger als 125 Athleten als Betrüger hängen. Im Vergleich zu 16 Dopingfällen während der Spiele selber. Kein anderes Konzept war im Kampf gegen das Hauptübel des Spitzensports bislang produktiver.
In den kommenden Wochen werden jetzt erstmals auch in der Schweiz solche Nachtests durchgeführt. Antidoping Schweiz will bis Ende Jahr eine dreistellige Zahl von Proben aus den Jahren 2010 bis 2016 im Labor von Lausanne, wo auch die olympischen Tests unter die Lupe genommen wurden, nochmals analysieren lassen. 50 000 Franken investiert man in das Projekt. Keinen Einfluss hat die Nachanalyse auf die aktuelle Kontrolltätigkeit. Erneut werden 2019 rund 2000 Dopingkontrollen in der Schweiz durchgeführt.
Seit 2010 lässt die Schweizer Antidoping-Agentur jedes Jahr eine grössere Anzahl dieser Urin- und Blutproben einfrieren. Das geschieht in einem speziell gesicherten Kühlraum des Labors von Lausanne. Im vergangenen Jahr waren es knapp 300 Proben, insgesamt warten bei minus 20 Grad (Urin), respektive minus 80 Grad (Blut) rund 3000 Proben darauf, von den Fachleuten noch einmal durchleuchtet zu werden.
Wobei man genau einen Versuch hat, einen möglichen Dopingsünder mit zeitlichem Abstand zu entlarven. «Wir lagern nichts ohne Grund», sagt Ernst König, Direktor von Antidoping Schweiz, zur Frage, nach welchen Kriterien die zurückbehaltenen Urinproben ausgewählt werden.
Während im Kampf gegen Doping vieles sehr gut dokumentiert, teilweise sogar überreglementiert ist, gibt es zu möglichen Strategien für diese Nachtests noch keine wissenschaftlichen Konzepte. Die bisherigen Vorgehensweisen von IOC, Fachverbänden oder nationalen Agenturen waren sehr individuell. Derzeit finalisiert Antidoping Schweiz gemeinsam mit der Leitung des Lausanner Labors die erfolgversprechendste Strategie für die Schweizer Proben. Ernst König sagt, es gehe dabei auch um die effizienteste Nutzung von Ressourcen.
Was feststeht: «Der Fokus liegt klar auf den Hochrisikosportarten punkto Doping», sagt König. Und in den nächsten Wochen werden ausschliesslich Proben aus dem Kühllager geholt, «die mit einer Auffälligkeit verknüpft sind». Das können indirekte Hinweise im Blutprofil eines Sportlers sein, Ungereimtheiten bei der Analyse der ursprünglichen Probe, neue Erkenntnisse über Dopingpraktiken zu jener Zeit oder andere Verdachtsmomente im Zusammenhang mit einem Athleten. Gut möglich, dass der eine oder andere Schweizer Sportler vor dem Weihnachtsbaum eine gewisse Nervosität befällt.
Allerdings gibt es neben der Erfolgsbilanz von rund 10 Prozent nachträglich überführten Betrügern bei Olympischen Spielen auch das Beispiel aus dem Nachbarland Deutschland. Dort hat die nationale Antidoping-Agentur gezielt gut 500 Proben deutscher Sportler aus den Olympiajahren 2008 und 2012 nachanalysieren lassen. Keine einzige brachte einen positiven Befund hervor.
Bis die Öffentlichkeit in der Schweiz erfahren wird, ob der eine oder andere bekannte Sportler vielleicht doch nicht so unbefleckt ist, wie man ihn in Erinnerung hat, wird noch einige Zeit vergehen. Wenn Antidoping Schweiz zu Beginn des neuen Jahres die Befunde erhält, dann wird man zuerst darüber befinden, ob weitere Ermittlungen – etwa im Umfeld des Athleten – gestartet werden.
Erst danach beantragt Antidoping Schweiz bei der Disziplinarkammer von Swiss Olympic die Eröffnung eines Verfahrens und informiert den Athleten über den positiven Befund. Das Dopingverfahren selbst sollte gemäss Wada-Empfehlung und eigener Zielsetzung in einem halben Jahr abgeschlossen sein. Es gibt aber viele Beispiele, bei denen es bis zum Schuldspruch ungleich länger ging. Etwa, wenn ein Verfahren sehr komplex ist oder die Juristen des Angeklagten Fristen bis zum äussersten ausreizen.
Die Nachtests in der Schweiz werden nun nicht jährlich wiederholt. Man will auch in Zukunft einen strategischen Schwerpunkt bilden und dannzumal erneut eine grössere Anzahl Proben aus verschiedenen Jahren nochmals unter die Lupe nehmen. Zum Beispiel bei bedeutenden Entwicklungsschritten in der Analytik und den Nachweismethoden. Ernst König sieht im Projekt neben dem möglichen entdecken von Übeltätern auch einen Präventivcharakter. Schade nur, erwischt man auf diese Weise nur die Doper von gestern, während die Betrüger von heute vielleicht erst morgen auffliegen.