Ambri ist ehrlich. Der Klub bekennt sich per offizieller Medienmitteilung zur Sünde:
Liga-Manager Denis Vaucher sagt, die Sicherheitslage in den Stadien sei gut. «Aber bei uns ist das Werfen von Gegenständen aufs Eis eine Unsitte, die es so in keiner anderen Liga der Welt gibt.» Und so ist das Bekenntnis von Ambri ganz in seinem Sinne. Man wolle diese Saison gegen diese Unsitte vorgehen. «Deshalb ist es neu möglich, bei Gegenstandwürfen gegen Personen ein zweijähriges Stadionverbot auszusprechen.»
‼️ Il club biancoblù si rivolge ai propri tifosi onde evitare di pagare multe inutili e il quale ammontare potrebbe essere utilizzato per sostenere il Settore Giovanile.
— HC Ambrì Piotta (@HCAP1937) September 16, 2022
Grazie per aiutarci ad evitare multe inutili 🙏🏻
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Eine besondere Unsitte seien die Bier- und Urin-Duschen. Urin? Der Liga-Manager bestätigt: «Ja, es kommt vor, dass nicht mit Bier, sondern mit Urin gefüllte Becher aufs Eis fliegen.» Stossend sei vor allem, dass es solche «Bier»-Angriffe gegen Schiedsrichter, Spieler, Coaches, Spieler und Kameraleute gebe. «Wir wissen, dass es letzte Saison im Stadion Wettbewerbe zwischen den Fangruppierungen gegeben hat: Wer kann TV-Kameraleute besser mit Bierbechern bewerfen.»
Das Werfen von Gegenständen ist ein Antragsdelikt: Ausgelöst wird das Strafverfahren in der Regel durch den sog. BESO, den «Rapport über besondere Vorkommnisse» der Schiedsrichter. Aber auch Sicherheitsbeauftragte oder angegriffene Offizielle eines Klubs können Antrag stellen.
Bleibt noch aufzuschlüsseln, was eigentlich neben Bierbechern mit Flüssigkeit noch aufs Eis geworfen wird. Am häufigsten Feuerzeuge. Dann folgen Münzen. Was gefährlich ist: Die Münzen frieren auf dem Eis sofort ein und wenn sie nicht entdeckt werden, können sie Verletzungen bei Spielern verursachen, die wegen der eingefrorenen Münzen zu Fall kommen.
Juristisch ist nicht geregelt, wem das Geld gehört, das aufs Eis geworfen wird. Schiedsrichterchef Andreas Fischer sagt, es sei Brauch, dass die aufgesammelten Münzen in der Schiedsrichtergarderobe auf dem Tisch zurückgelassen werden. Als Trinkgeld fürs Putzpersonal. Am höchsten seien die Einnahmen in … Ambri.
Einmal ist auch schon der Wurf eines toten Fisches rapportiert worden. Und aus einer VIP-Loge ist ein teurer Designer-Schuh aufs Eis geflogen. Was gar nicht so ungewöhnlich ist: Der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow war auf der Weltbühne einst in Äusserungen und Gesten eher noch impulsiver als die Hockey-Manager und -Präsidenten in den VIP-Logen.
Am 12. Oktober 1960 begann Chruschtschow bei der UNO-Vollversammlung während der Rede des philippinischen Delegierten mit seinem Schuh aufs Pult zu schlagen, um seine Wut zum Ausdruck zu bringen. Was einem der mächtigsten Männer der Welt damals recht war, kann heute einem Hockey-Geldausgeber oder Funktionär nur billig sein. Zudem sind in arabischen Ländern das Zeigen und Werfen von Schuhen seit den Zeiten des Osmanischen Reiches ein Symbol für Protest und Ausdruck grosser Verachtung.
Es gibt eigentlich nur eine charmante Form des Protestes, der keine Strafe nach sich zieht: der Papierflieger. Ab und an segelt ein wohl aus einer Seite des Programmheftes gefalteter Papierflieger aufs Eis. In der Regel gibt es deswegen keinen Schiedsrichterrapport.
Den originellsten Protest der Geschichte hat es – wie könnte es denn anders sein – in Ambri gegeben: Ende September 2010 warf ein erboster Sitzplatzzuschauer einen alten Koffer in hohem Bogen aufs Eis. Er gab damit seinen Unmut über Trainer Benoit Laporte Ausdruck. Und tatsächlich musste Ambris Trainer am 11. Oktober 2010 seine Koffer packen und Kevin Constantine Platz machen.
Sollten Trainer diese Saison den Unmut des Publikums wecken – was ja durchaus da und dort vorkommen könnte – so gibt es eine etwas elegantere Form des Protestes als den Kofferwurf: ein zum Papierflieger gefaltetes Flugticket aufs Eis segeln lassen.