Die Partie steht 1:1. Nach 58,08 Minuten schickt Schiedsrichter Daniel Stricker HCD-Verteidiger Jesse Zgraggen wegen eines Stockschlages auf die Strafbank. Die Zuger nützen den Ausschluss 15 Sekunden vor Schluss zum Siegestreffer. HCD-Trainer Christian Wohlwend rastet aus und schmeisst mehrere Trinkflaschen Richtung Schiedsrichter. Die stehen allerdings weit ausser Wurfweite.
💥🤬HCD-Coach 𝐂𝐡𝐫𝐢𝐬𝐭𝐢𝐚𝐧 𝐖𝐨𝐡𝐥𝐰𝐞𝐧𝐝 rastet aus! 15 Sekunden vor Schluss schiesst Zug in Überzahl das 2:1-Siegestor nach einer harten Strafe gegen den HCD!#Playoff22 | #NationalLeague pic.twitter.com/Jm1cMixKxR
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Zu dieser Strafe wird viel Unsinn verbreitet. Es ist kein Fehlentscheid. Regeltechnisch ist diese Strafe hundertprozentig korrekt. Sie basiert auf dem Regelbuch.
Regel 183, Absatz IV sagt nämlich unmissverständlich:
«Einem angreifenden Feldspieler ist es nicht erlaubt, mit dem Stock nach dem Handschuh des Torhüters zu stossen, zu klopfen oder zu schlagen, nachdem der Torhüter den Puck hielt, egal, ob der Handschuh auf dem Eis oder in der Luft ist.»
Die zwei Minuten für diesen Regelverstoss werden mit dem Zeichen «Stockschlag» beim Zeitnehmerhäuschen gemeldet. Deshalb läuft das Vergehen von Jesse Zgraggen unter der Rubrik «Stockschlag».
“Es ist keine Strafe!” So analysiert Schiri-Experte @mandioni die harte Strafe gegen Davos, die zur Niederlage führte!#playoff22 pic.twitter.com/BMnlxYVhO7
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Für dieses «Nachstochern» des HCD-Verteidigers KANN also gemäss Regelbuch eine Zweiminutenstrafe ausgesprochen werden. Aber diese Strafe ist nicht zwingend notwendig. Sie MUSS nicht ausgesprochen werden. Ermessensspielraum. Wir haben es hier mit einem korrekten, aber äusserst unglücklichen Schiedsrichter-Entscheid zu tun. Mit fehlendem Fingerspitzengefühl. Das ist etwas ganz anderes als ein Entscheid, der durch das Regelbuch nicht gestützt wird. Also: kein Fehlentscheid.
Solche Strafen werden in solchen Situationen in der Startphase ausgesprochen. Um den Spielern zu signalisieren: Wir schützen die Torhüter! Lasst das! Oder in der Schlussphase einer längst entschiedenen Partie, wenn noch ein wenig kompensiert wird.
Aber kein Schiedsrichter, der bei Sinnen ist, spricht eine solche Strafe in den beiden letzten Minuten eines Playoffspiels beim Stand von 1:1 aus. Daniel Stricker hat diese Partie entschieden und gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstossen: Lasst die Spieler Spiele entscheiden. Wir haben es hier mit miserablem «Game Management» zu tun. Aber eben nicht mit einem Fehlentscheid.
Der Temperamentsausbruch von Christian Wohlwend hat natürlich Folgen. Um es im Ostschweizer Dialekt zu sagen: Da taar me nööd. Die Ligaführung hat als Gralshüterin der guten Sitten beim Einzelrichter ein Verfahren beantragt. Das wäre eigentlich nicht mehr nötig gewesen. Die Integrität der Schiedsrichter ist weder verbal noch auf sonst eine Weise verletzt worden. Die Unparteiischen standen weit ausserhalb des «Gefahrenbereiches». Alles, was es hier zu beanstanden gibt, ist fehlender Anstand. Christian Wohlwend wird eine wohlverdiente Busse aufgebrummt bekommen. Und sich dann, wenn er die Banküberweisung tätigt, noch ein zweites Mal ärgern.
Klüger wäre es gewesen, die Sache nun ruhen zu lassen. Christian Wohlwend ist mit einer Spieldauerdisziplinarstrafe belegt worden. Das hätte gereicht. Aber nun wird mit dem Verfahrensantrag der Liga die Sache erst recht aufgekocht. Und auf einmal wird Christian Wohlwend zum Märtyrer. Wer sich sonst nicht mit Hockey befasst, findet das Verhalten des HCD-Coaches degoutant. In Hockeykreisen aber findet er durchaus Verständnis: Ein Playoffspiel wegen eines solchen unglücklichen Schiedsrichterentscheides verlieren – da haben sehr, sehr viele Verständnis. Sagen es aber nicht.
Christian Wohlwend ist schon mit einigen verbalen Aussetzern in die Kritik geraten. Zuletzt wegen öffentlicher Zusammenfaltung seines Torhüters Sandro Aeschlimann. Das goutieren weder Spieler noch Fans noch Verwaltungsräte. Dafür gibt es kein Verständnis. Schon gar nicht beim HCD, wo auf die Aussenwahrnehmung so viel Wert gelegt wird.
Aber wenn ein unglücklicher Schiedsrichterentscheid, der zur Niederlage führt, der Grund für einen Temperamentsausbruch ist, dann ist die Sache eine andere. Dann ist der Coach nach innen sozusagen der Märtyrer, der sich für seine Jungs «opfert». Und da mit dem Begehr um Untersuchung (Verfahrenseröffnung) von höchster Stelle, von der Liga, der Sache erst richtig Bedeutung gegeben wird, mutiert Christian Wohlwend vom Lausbuben zum Märtyrer. Denn die Unsinnigkeit der Strafe ist ja für alle offensichtlich. Dem HCD-Feuerkopf hilft der populistische Reflex: «Wir allein gegen die Schiedsrichter- und Ligamafia aus dem Unterland.» Schiedsrichter Daniel Stricker hat Christian Wohlwend unfreiwillig zum Märtyrer gemacht. Es ist das erste Mal, dass es einen mehr oder weniger verständlichen, sachlichen Grund für einen Gefühlsausbruch des HCD-Coaches gibt.
HCD-Präsident Gaudenz Domenig äussert sich zum Vorfall gar nicht und resümiert zur Position von Christian Wohlwend, der noch einen Vertrag bis zum Ende der nächsten Saison hat: «Wir werden die Saison in aller Ruhe analysieren. Die sportlichen Ziele haben wir erreicht.»
Die ganze Episode hat die wacklige Position von Christian Wohlwend in Davos gestärkt. Nicht geschwächt. Er ist intern so etwas wie ein heimlicher Sieger. Zumindest so lange bis er das nächste Mal in einer weniger passenden Situation ausflippt.