Kein Mann der vielen, aber ein Mann der wichtigen Tore. Er hat am Samstag gegen Servette erst seinen 5. Saisontreffer erzielt – und immer punkten die Langnauer, wenn er trifft. Oder fast immer. Gegen den SCB markierte Alexei Dostoinow das 3:3 (Schlussresultat 4:3), im Hallenstadion das 2:1 (Schlussresultat 3:1) und nun gegen Servette das 2:1 (Schlussresultat 3:4 n.V).
Beinahe hätte es in der Verlängerung gar zum Siegestor gereicht. «Aber der Schuss war zu wenig hoch ...» Es war einer seiner direkten Kunstschüsse. Servette-Schlussmann Gauthier Descloux parierte.
Sein Namen klingt ein wenig melancholisch und erinnert an Doktor Schiwago: Alexei Dostoinow. Und als wir uns kürzlich trafen, erwartete ich eine ziemlich gewöhnliche Geschichte, wie sie in unserem Hockey viele zu erzählen gibt.
Junior im Farmteam der ZSC Lions, Erfahrungen in den nordamerikanischen Nachwuchsligen und eine Tour de Suisse, die ihn nach Aufenthalten in Lausanne, Biel, Ambri und Bern an den Ort seiner Bestimmung geführt hat: nach Langnau. Hier hat er zum ersten Mal in seiner Karriere die vierte Saison mit der gleichen Mannschaft begonnen. Und ja, da war noch ein kurzer Ausflug nach Russland.
Alexei Dostoinow wirkt sowieso nicht wie eine Sagengestalt aus dem russischen Reich und schon gar nicht wie ein Künstler. Er trägt Bart, spricht bedächtig, mahnt auch mit der Postur (186 cm/92 kg) mehr einen kernigen Kerl aus unseren Bergen als an einen «Desperado» aus der russischen Taiga.
Am Ende wird es doch eine Geschichte wie Doktor Schiwago. Statt über den Aufstieg mit Lausanne, den Kulturschock nach dem Wechsel zum SCB, ein bisschen Klagen über den gestrengen Heinz Ehlers und die erstaunliche Moral der Langnauer, die inzwischen selbst nach 35 Niederlagen in 44 Spielen den Mut nicht verloren haben, dreht sich unser Gespräch bald um das ewige Russland, seine Kultur, seine Weltraumfahrt und um Andrei Razin, einen Despoten an der Bande.
Kein Wunder, sagt Alexei Dostoinov: «Was ich dank dem Eishockey erlebt habe, wiegt eine Meisterfeier auf.» Wobei er die Feierlichkeiten zum Aufstieg in Lausanne für immer in Erinnerung behalten wird. «Sie dauerten einen gefühlten Monat lang ...»
Meister ganz oben in der National League ist er also noch nicht geworden und wird es wohl nicht mehr. Aber immerhin ist er mit Langnau einmal in die Playoffs vorgerückt. Das ist fast noch rarer als irgendwo Meister zu werden.
Er ist in Moskau zur Welt gekommen. Seine Eltern zügelten in die USA als er drei Jahr alt war, machten später in Zürich Station (weshalb er den Schweizer Pass hat) und leben heute in idyllischer Umgebung in der Nähe des tschechischen Kurbades Marienbad.
Der Reisende zwischen den Welten spricht russisch mit Akzent («manchmal hält man mich deswegen für einen Weissrussen»), Englisch, Französisch und Deutsch. Mit seiner russischen Frau, die er in Lausanne kennengelernt hat, der Einfachheit halber meistens Englisch. «Aber wenn wir Kinder haben, sorgen wir dafür, dass sie Schweizerdeutsch sprechen.»
Die Geschichte und die Kultur Russlands, ganz besonders die Historie seiner Familie, interessieren ihn. «Meine Mutter hat intensiv Ahnenforschung betrieben». Die Dostoinows sind eine alteingesessene Moskowiter Familie. Der Grossvater arbeitete als Ingenieur in der russischen Weltraumfahrt und gehörte als leitender Ingenieur zum Team, das Juri Gagarin am 12. April 1961 die erste Erdumrundung ermöglichte.
Es wäre übertrieben, die Familie zur Nomenklatura der untergegangenen Sowjetunion zu zählen. «Mein Vater brauchte Glück, dass er an der Universität International Wirtschaft und Physik studieren durfte.» Er arbeitete später in der Baubranche und nach dem Untergang des Kommunismus führte ihn seine Beratertätigkeit für Grossprojekte in die USA und in die Schweiz.
Alexei Dostoinows beste Geschichten sind die aus seinem knapp zweijährigen Abenteuer in den beiden höchsten russischen Ligen. Er hat dort unter anderem Avtomobilist Yekaterinburg unter dem sagenumwobenen Cheftrainer Andrei Razin gedient.
So gebannt wie ich den Erzählungen über die Zustände im russischen Hockey lauschten wohl einst die Dogen von Venedig den Reiseberichten von Marco Polo.
Andrei Razin war offensichtlich ein strenger Bandengeneral. Wer nicht gut spielte, habe am anderen Tag sein Portrait an der Kabinenwand gefunden. Mit der Bezeichnung «Verräter». Aber es ging offenbar noch weiter: «Wer nicht gut genug war, musste zur Strafe im Training ein rosarotes Leibchen tragen, auf dem meistens irgendein Name eines Künstlers oder Coiffeurs aus der Schwulenszene aufgedruckt war.» Er habe ab und an auch so ein Dress tragen müssen.
Aber richtig hart seien die Strafaktionen gewesen:
Und so richtig ans Limit sei es im Straf-Trockentraining gegangen, das neben dem ordentlichen Eistraining zu leisten war und gut und gerne sechs Stunden gedauert habe:
Da muss ihm dann später in der Schweiz der gestrenge Heinz Ehlers wohl wie ein schüchterner Sonntagsschullehrer vorgekommen sein. «Ich hatte es mit Heinz jedenfalls immer gut ...»
Russland bot aber auch eine gewisse Hockeyromantik. So erinnert er sich gerne an einen «Roadtrip» mit der transsibirischen Eisenbahn. «Wir sind nach Irkutsk geflogen und dann mit der Bahn mehr als viertausend Kilometer bis Kasan gefahren. Unterwegs sind wir zweimal ausgestiegen, um ein Spiel zu bestreiten.»
Gereist sei man nicht etwa in der 1. Klasse und meine Schilderungen über meine Fahrt im Erstklassenabteil mit Bett, Tisch, Polstersessel, eigenem Bad und WC mit der transsibirischen Eisenbahn haben ihn denn doch ein wenig erstaunt. «Wir reisten in einem Viererabteil und Speisewagen gab es auch keinen ...»
Alexei Dostoinov sagt, er habe die Strapazen im russischen Hockey mit einer gewissen Gelassenheit ertragen. «Ich hatte ja jederzeit die Möglichkeit, in die Schweiz zurückkehren zu können. Etwas anderes ist es, wenn man keine Alternative hat.» Er hat eben das Glück, ein Reisender zwischen den Hockeywelten zu sein.
Russland ist also ein wenig anders. Aber Alexei Dostoinow hat auch in der Schweiz verschiedene Kulturen kennen gelernt. Etwa den Unterschied des Eishockeys auf den beiden Seiten des Röstigrabens. «Als ich von Lausanne nach Bern kam, war das für mich ein Kulturschock.» Warum denn das? «In Lausanne konnten wir mehr oder weniger tun und lassen, was wir wollten. Wichtig war nur, dass wir gewinnen.» Das tat Lausanne damals häufig und stieg auf.
Nach der Promotion (in der Liga-Qualifikation gegen Langnau) kommt es in Lausanne trotzdem zu keiner Vertragsverlängerung. Obwohl er Champagner-Hockey zelebriert hat: 50 Punkte in 50 Qualifikationspartien, 21 Punkte in den 21 Playoff- und Liga-Qualifikationsspielen.
Und so geht die Reise durch die Hockeywelten weiter. Mit der nächsten Station in Bern. «Das war für mich ein Kulturschock. Alles so exakt geordnet, getimt und strukturiert. Jeder Spielzug wurde vorgegeben, jede Situation berechnet. Irgendwann hatte ich das Gefühl, nicht richtig versorgte Schlittschuhe könnten zu einer Niederlage führen ...» Wir ahnen es: Der Trainer beim SC Bern war damals Guy Boucher.
Also zieht Alexei Dostoinow nach einem Jahr weiter nach Ambri und wieder ein Jahr später bricht er zu seinem zweiten Russland-Abenteuer auf. Die Saison in Russland beendet er vorzeitig, kehrte in die Schweiz zurück und kommt am 2. Dezember 2016 nach Langnau. An den Ort seiner Bestimmung.
Aus dem weiten, ewigen Land Puschkins, Pasternaks und Dostojewskis in die hüglige Welt Gotthelfs, Gfellers und Dürrenmatts. Hier ist er geblieben, der Vertrag läuft noch bis zum Ende der nächsten Saison. Es gefällt ihm gut. Er lebt mit seiner Frau in Zürich. In Langnau hat er eine Wohnung. Aber was sind schon häufige Reisen zwischen Zürich und Langnau für einen Mann, der für Auswärtsspiele in Russland schon mal mehr als 4000 Kilometer mit der Eisenbahn gefahren ist?
Zwischendurch ist er diese Saison von Trainer Rikard Franzén auf die Tribüne verbannt worden. Aber das kann einen Spieler nicht mehr erschüttern, der unter «Andrei dem Schrecklichen» gedient hat. Und so sagt Alexei Dostoinow, der Trainer sei mit ihm nicht zufrieden gewesen und deshalb habe er zuschauen müssen. Das sei absolut in Ordnung. Er habe sich um eine Leistungssteigerung bemüht.
Darüber, wie es nach seiner Karriere weitergehen soll, hat er sich noch nicht den Kopf zerbrochen. Er ist weit gereist und er hat viel erlebt und erfahren. Das gibt ihm die Gelassenheit und das Wissen, dass es immer irgendwie weitergehen wird.
Klar ist für ihn eigentlich nur, dass er sich eine Existenz in der Schweiz aufbauen will. Und sicherlich wird er dann auch hin und wieder eine Reise ins ewige Russland machen. Und dabei sollte er sich in der transsibirischen Eisenbahn die 1. Klasse gönnen.