Wir wollen diese Geschichte mit einem ausführlichen Zitat beginnen:
Es ist meine Prognose für das Viertelfinale ZSC Lions gegen den EHC Biel. Der Irrtum des Jahres. Vergleichbar mit jener legendären Prognose des britischen Post-Chefs Sir William Preece aus dem Jahre 1876. «Die Amerikaner brauchen Telefone. Wir nicht. Wir haben genug Botenjunge.» Ach, die Kultur des EHC Biel ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Es ist die gefühlte 25. Fehlprognose über Biel in dieser Saison. Mindestens so oft habe ich auch behauptet, Biel werde die Playoffs nicht schaffen.
Nichts ist mit «überrollen». Simon Rytz ist einer der Hauptgründe, warum die ZSC Lions als Titelverteidiger in diesem Viertelfinale 1:2 im Rückstand liegen und um die Halbfinalqualifikation zittern. Mit 31 Jahren spielt der Bruder von Lausannes Verteidiger Philippe Rytz erstmals in seiner Karriere sein bestes Hockey. Er hat seine Fangquote von 90,41 in der Qualifikation auf 95,00 Prozent in den Playoffs gesteigert. Zuletzt hat er in Zürich auch noch das Penaltyschiessen gewonnen.
Es ist ja nicht einmal der erste Irrtum rund um Simon Rytz. Eine Episode mag zeigen, wie anonym dieser Goalie nach seinem Debut mit Biel in der NLB vor 15 Jahren durch die Nationalliga getingelt ist. Mit Stationen in La Chaux-de-Fonds, Genf, Neuenburg, Pruntrut, Zug und Fribourg. Ehe er im Sommer 2013 schliesslich wieder heim nach Biel gekommen ist.
Diese wahre Geschichte geht so: Ortstermin Medienraum Bieler Eisstadion. Samstag, 28. September 2013. Die Teamaufstellungen für die Partie Biel gegen den SC Bern werden verteilt. Ein Raunen geht durch die Reihen der Chronistinnen und Chronisten. Im Tor steht Simon Rytz.
Hat Trainer Kevin Schläpfer bereits das Handtuch geworfen? Gibt er die Partie zum Voraus verloren? Simon Rytz im Tor? So ist doch ein Sieg gegen den grossen SCB unmöglich!
Biels Medienchef liefert etwas verlegen die Begründung. Simon Rytz sei kein Lottergoalie und habe bei der Niederlage gegen Servette gut gespielt und bekomme deshalb erneut eine Chance. Lukas Meili, das Jahrzehnttalent, muss wieder unter die Wolldecke. Die spinnen, die Bieler.
Simon Rytz wehrt sich gegen den SCB heldenhaft und stoppt sogar alle Penaltys. Biel gewinnt 2:1 nach Penalty-Schiessen. Er liefert DIE Geschichte zum dramatischen Spiel.
Ein Chronist, dessen Name mir grad entfallen ist, hat schon fast 3000 Zeichen komponiert. Eine schöne, eine süffige Story. Einer fragt, ob der Simon Rytz eigentlich hornusse. Ja, ja und er sei auch mit Lyss Schweizer Meister im Hornussen geworden. Wahrlich eine gute Story. Der Titel steht auch schon: «Meisterhornusser stoppt den SCB.» Zumal ja das «Abtun» als das Abwehren des Nousses (der dem Puck sehr ähnlich sieht) zu den Kernaufgaben eines tüchtigen Hornussers gehört. Jetzt braucht es bloss noch ein paar Zitate des Helden.
Nach dem Spiel stehen die Chronistinnen und Chronisten deshalb vor der Bieler Kabine und bestellen die Spieler zum Interview. Auch Radio SRF 1, unser aller Leitmedium, verlangt natürlich Simon Rytz. Den Helden der Partie. Er kommt sofort, schon frisch geduscht, gebürstet und gekämmt. Er ist ein wenig verwundert, dass er interviewt werden soll. Spätestens bei der Frage des fachlich hochkompetenten Mannes vom staatlichen Radio nach den gehaltenen Penaltys dämmert es allen: Der Held der Partie heisst Lukas Meili. Er hat gespielt. Nicht Simon Rytz. Die offizielle Mannschaftsaufstellung stimmte nicht. Einige Chronisten hasten zurück an ihre Computer. Die Geschichten müssen neu geschrieben werden.
Wie ist eine solche Verwechslung möglich? Nun, Lukas Meili und Simon Rytz sind praktisch gleich gross. Sie sind auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden und halt «Nobodys» auf der grossen Hockeybühne. Es dauert eben Jahre, bis einer ein unverwechselbarer, grosser Goalie wird wie David Aebischer, Marco Bührer oder Martin Gerber.
Diese Geschichte wird sich nicht wiederholen. Jetzt kennen wir Simon Rytz. Er hat mit Biel zwei der ersten drei Partien gegen die ZSC Lions gewonnen. Obwohl er eigentlich ein Stilist aus dem letzten Jahrhundert ist und eher an den legendären letzten Bieler Meistergoalie Olivier Anken als an die modernen Titanen wie Jonas Hiller oder Tobias Stephan mahnt. Denn er ist nur 1,74 Meter gross. Zu klein für den modernen Butterfly-Stil.
Aber Simon Rytz ist ein enorm kampfstarker und mit seiner Erfahrung eben auch smarter Goalie. Er ist stets «im Spiel». Er weiss immer, wo die Scheibe ist und gibt einfach nie auf. Irgendwie wehrt er den Puck doch noch ab.
Warum ist er erst jetzt so gut? Sein Trainer Kevin Schläpfer sagt: «Es ist das erste Mal, dass er die Nummer 1 in der NLA ist. Das gibt ihm viel Selbstvertrauen und löste einen Leistungsschub aus.» Wir können uns fragen: Wie wäre diese Karriere verlaufen, wenn in den letzten 15 Jahren ein Trainer irgendwo schon auf die Idee gekommen wäre, Simon Rytz zur Nummer 1 zu machen?
Simon Rytz und seine Geschichte liefern uns eine Erklärung, warum Biel dazu in der Lage ist, den Meister zu fordern. Und warum Kevin Schläpfer ein aussergewöhnlicher Trainer ist. Biel hat entgegen fast allen Prognosen in den letzten vier Jahren dreimal die Playoffs erreicht, weil immer und immer wieder Spieler, deren Talent anderorts verkannt worden ist, weit über sich hinauswachsen. Weil Kevin Schläpfer ein Trainer ist, der ein feines Gespür für verkannte Talente im Allgemeinen und für Torhüter im Besonderen hat. Kevin Schläpfer, der «Goalie-Flüsterer».
Weil ich mich mit meinen Biel-Prognosen immer so grandios blamiere, wage ich jetzt nicht zu behaupten, Biel werde die ZSC Lions aus den Playoffs kippen. Das kann ich Simon Rytz und Kevin Schläpfer nicht antun.