Ein grösserer Gegensatz als zwischen Martin Gerber und Ray Emery ist kaum denkbar. Hier der leise und introvertierte und zähe Kämpfer Martin Gerber aus Langnau. Die Verkörperung vom bescheidenen Emmentaler. Dort der extrovertierte Hockey-Popstar Ray Emery, im Auftreten lange Zeit eher ein Rapper als ein Eishockeyspieler. Die Verkörperung vom selbstsicheren und coolen Nordamerikaner.
Es schien völlig undenkbar, dass sich die Karrieren vom bodenständigen Emmentaler und dem exzentrischen Kanadier je kreuzen oder gar parallel verlaufen könnten. Mit 20 spielt Ray Emery seine ersten NHL-Partien. Im gleichen Alter ist Martin Gerber erst die Nummer zwei beim SC Langnau in der NLB.
Doch dann führen die Hockeygötter die beiden zusammen. Zwei Jahre lang (2006/07 und 2007/08) bilden Martin Gerber und Ray Emery das Goalie-Duo bei den Ottawa Senators.
Es sind wilde Jahre. Selten hat die NHL ein Torhüter-Duo gesehen, das sich so spinnefeind ist. Zwei Männer, die gar nicht miteinander auskommen können. Weil ihr Lebensstil und ihre Berufsauffassung so unterschiedlich sind. Sie sind gegensätzlich wie Feuer und Wasser. Wie Monika Fasnacht und Kim Kardashian. Der eine aus Langau im Emmental, der andere aus Hamilton, einer «rostigen» Industriestadt an der US-Grenze mit der höchsten Anzahl Barschlägereien in Kanada.
Nach dem Spiel kommt Ray Emery in der Rapperkluft oft als Erster aus der Kabine und hört Musik und läuft im Rhythmus dieser davon. Anderthalb Stunden später verlässt Martin Gerber das Stadion unauffällig. Auslaufen, Dehnen, Massage – das Ritual nach Spiel und Training dauert bei ihm immer so lange. Ray Emery provoziert und polarisiert. Von einem Trip nach Las Vegas kehrt er schon mal so spät zurück, dass er das erste Training nach der All-Star-Pause verpasst. Nach und nach spalten die beiden die Fans in zwei Lager. «Gerberisten» gegen «Emeryaner».
Die Fans mochten Martin Gerber lange Zeit nicht. Sie verehrten den charismatischen Ray Emery. Während des Stanley-Cup-Finals von 2007 baute er auf der Autobahn einen Unfall. Und schrieb beim Warten auf die Polizei seelenruhig Autogramme und vergrösserte so den Stau. Hätten die Senators im Finale auf Martin Gerber gesetzt, hätten sie wahrscheinlich den Stanley Cup geholt. Aber der Coach wagte es nicht, den Publikumsliebling, der das Team ins Finale gebracht hatte, auf die Ersatzbank zu verbannen.
Der mehr und mehr umstrittene Ray Emery verlässt Ottawa im Sommer 2008 und spielt eine Saison in der russischen KHL. Der nie so richtig geliebte Martin Gerber wird im Laufe der Saison 2008/09 nach Toronto transferiert und verlässt die NHL im Sommer 2009. Er wird in Mytischtschi in der KHL der Nachfolger von … Ray Emery.
Das alles kommt mir jetzt in Philadelphia wieder in den Sinn. Ray Emery ist 2009 in die NHL zurückgekehrt und inzwischen wieder Torhüter der Philadelphia Flyers geworden. Er kassiert noch eine Million Dollar brutto. Weil in den USA rund die Hälfte des Salärs durch Steuern verloren geht, dürfte er ungefähr gleich viel verdienen wie Martin Gerber. Beide haben in dieser Saison auch fast die gleiche Anzahl Spiele bestritten (Emery 26, Gerber 33) und eine ähnliche Fangquote (Emery 89,30 %, Gerber 90,87 %) und beinahe die gleiche Rückennummer (Emery 29, Gerber 28).
Wegen der Verletzung von Steve Manson (26) ist Ray Emery in Philadelphia vorübergehend die Nummer eins. Die Fans mögen ihn auch hier. Sein wilder Stil ist spektakulär. Er ist zwar ein bisschen ruhiger geworden. Der Rebell von einst wirkt schon fast wie ein Musterprofi. Aber er hat immer noch Charisma. Die Leistungen haben jedoch stark nachgelassen. Die Art und Weise, wie er beispielsweise die letzten zwei Niederlagen gegen die Hinterbänkler aus Columbus und Buffalo durch haltbare Gegentreffer verschuldet hat, ist schon fast grotesk. Martin Gerber ist zurzeit eher besser.
In der NLA würden wir den Schlussmann bei den Philadelphia Flyers als Lottergoalie bezeichnen. Aber Torhüterkritik ist in Amerika so verpönt wie in Kloten. Erst recht mit dem Verweis auf die Vergangenheit. Ray Emery ist Stanley-Cup-Finalist! Martin Gerber ist Stanley-Cup-Sieger – und im Vorjahr hexte er ja die Flyers ins Finale gegen die ZSC Lions! Vergangener Ruhm hat gerade im stockkonservativen Eishockey eine enorme und oft unterschätzte Strahlkraft.
In Philadelphia kämpft eine von den ganz grossen NHL-Organisationen (Finalist 2010) einen immer aussichtsloseren Kampf um die Playoffs. Torhüter Ray Emery ist eines von den zentralen Problemen. Mirakulöse Paraden und haarsträubende Fehler. Aber so wie im Märchen um die neuen Kleider des Kaisers wagt es niemand zu sagen, was Sache ist. Ray Emery wird ausdrücklich gelobt.
In Kloten ist eine der grossen NLA-Organisationen (Finalist 2014) im Kampf um die Playoffs soeben grandios gescheitert. Torhüter Martin Gerber ist eines von den zentralen Problemen. Mirakulöse Paraden und haarsträubende Fehler. Aber so wie im Märchen um die neuen Kleider des Kaisers wagt es niemand zu sagen, was Sache ist. Martin Gerber wird ausdrücklich gelobt.
Es gibt also unheimliche Parallelen beim Scheitern zwischen Ray Emery und Martin Gerber und ihren Arbeitgebern. Allerdings mit einem ganz wichtigen Unterschied. Wenn die Philadelphia Flyers die Playoffs verpassen, müssen sie anders als die Kloten Flyers nicht noch um den Ligaerhalt spielen. Die Besitzer der Klubs sind beide Milliardäre. Die NHL-Salärbegrenzung («salary cap») bewahrt Ed Snyder allerdings davor in Philadelphia mit den Flyers viel Geld zu verlieren. In Kloten kann Philippe Gaydoul hingegen so viel Geld für die Flyers ausgeben, wie er will – oder wie er muss.
Wenn die Philadelphia Flyers wieder eine Macht in der NHL werden wollen, brauchen sie einen anderen Torhüter. Wenn Sean Simpson in die Spitzengruppe der NLA zurückkehren will, braucht er nicht nur vier neue Ausländer. Er braucht auch einen anderen Torhüter. Wenn er es nicht merkt, brauchen die Kloten Flyers womöglich bald einen neuen Sportchef und Trainer. Aber wer sagt es ihm?
PS: Der Vertrag von Ray Emery läuft Ende Saison aus und er wird in Philadelphia nicht mehr weiterbeschäftigt. Er könnte für nächste Saison zu den Kloten Flyers wechseln.