Auf alten Darstellungen sieht König Drosselbart aus dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm Tristan Scherwey (29) erstaunlich ähnlich. Der Vergleich passt auch sonst: König Drosselbart bestraft in seinem Märchen Hochmut. Tristan Scherwey bestraft auf dem Eis spielerischen Übermut und Leichtsinn.
Die Schlussphase der Partie Biel gegen Bern läuft. 56. Minute. Tristan Scherwey erwischt Biels leichtfüssiges Federgewicht Jason Fuchs (175 cm/75 kg) mit einem seiner ligaweit gefürchteten Checks.
Biels Spielmacher muss mit einer ausgekugelten Schulter in die Kabine – und dort wird sie fachkundig sogleich wieder eingerenkt. Ob der Nationalstürmer (11 Länderspiele) heute im «Rückspiel» in Bern dabei ist, wird sich heute entscheiden.
Diese Szene ist typisch für Tristan Scherwey. Er ist von der Postur her kein furchteinflössender Titan (176 cm/85 kg). Aber ein kräftiger, furchtloser und teuflisch schneller Powerstürmer mit erstaunlich feinen Händen.
Seine Strafen-Statistik lässt keinen Bösewicht vermuten. In den letzten fünf Jahren hat er sich im Laufe der Qualifikation nie mehr als 45 Strafminuten zuschulden kommen lassen.
Aber seine Checks tun weh und seine spielerischen Qualitäten werden gerne unterschätzt. Er hat in jeder der vier letzten Partien gepunktet. Mit 20 Punkten aus 39 Partien ist er Berns viertbester Skorer. Gestern hat er in Biel den Anschlusstreffer zum 1:2 erzielt.
Nicht nur seine durchschlagende Wirkung auf dem Eis hat ihn längst zur SCB-Kultfigur gemacht. Ebenso fördert seine direkte, offene Art die Popularität. Und hin und wieder eine besondere Aktion. 2013 holt der SCB den Titel im Final gegen Gottéron. Gross ist die Empörung, als Bilder auftauchen, die Tristan Scherwey während der ausgelassenen meisterlichen Festivitäten beim Verbrennen eines Gottéron-Schals zeigen.
Ironie der vermeintlichen Skandal-Geschichte: Dieser Schal war gar kein echtes Gottéron-Halstuch. Es war eine von SCB-Fans kreierte Imitation, um Gottéron zu verhöhnen.
Eigentlich ist Tristan Scherwey ein Mann für die NHL. Tatsächlich hat er in Ottawa im September 2019 schon ein NHL-Camp absolviert und dabei einen vorzüglichen Eindruck hinterlassen. Trotz Vertrag bis 2027 beim SCB könnte der WM-Silberheld von 2018 theoretisch in die NHL wechseln. Was allerdings nicht mehr zu erwarten ist.
Kehren wir zur umstrittenen Szene in Biel zurück: War sein Angriff auf Jason Fuchs ein Foul? Die Schiedsrichter haben keine Strafe ausgesprochen. Es war kein Angriff gegen den Kopf.
Auch die Bieler werten den Check gleich nach der Partie nicht als Regelverletzung. Sportchef Martin Steinegger gibt jedoch zu bedenken: «Es war ganz sicher ein unnötiger Check.» Verteidiger Yannick Rathgeb taxiert die Aktion auch nicht als Foul, merkt aber kritisch an: «Es ging ihm nur darum, weh zu tun.»
Eigentlich ein klarer Fall für eine Retourkutsche heute beim «Rückspiel» in Bern. Vielleicht sogar für eine Prügeleinlage? Martin Steinegger mag davon nichts hören:
Das wäre natürlich anders, wenn Martin Steinegger heute noch spielen würde. Seine Härte brachte ihm einst beim SC Bern die Ehrenbezeichnung «Stoney» und das Ehrenamt des Captains ein. «Aber ich spiele eben nicht mehr ...» Seit Frühjahr 2012 hat er die Schlittschuhe im Keller und ist in Biel von der Kabine ins Sportchefbüro umgezogen.
Martin Steinegger vertraut in der «Causa Scherwey» auf den Lauf der Dinge und sagt: «What goes around, comes around» (auf Deutsch etwa: «Alles rächt sich irgendwann»).
Interessant ist, was Biels Trainer Lars Leuenberger in dieser Sache denkt. Er hatte Tristan Scherwey in Bern bereits als Juniorentrainer in der Mannschaft (Scherwey kam 2007 als Junior von Gottéron nach Bern) und später im Frühjahr 2016 im SCB-Meisterteam. Er sagt: «Ich kenne ihn, seit er als Junior zum SCB kam. Är isch ä guete Bueb.» Und jetzt sei er natürlich ein Mann geworden.
Den Angriff auf den Spielmacher seiner Mannschaft kann Lars Leuenberger natürlich nicht gutheissen. Auch er taxiert die Aktion als unnötig. Deswegen mag er Tristan Scherwey nicht als Bösewicht verurteilen: «Wir alle kennen ihn. Seine Spielweise ist das Resultat einer totalen Identifikation mit seinem Klub.»
Wir sehen also: In allen Urteilen beim Gegner schwingt unterschwellig auch Respekt mit. Hockey ist eben ein raues Spiel und wir zitieren gerne wieder einmal Kanadas Nationaldichter Al Purdy, der Hockey als eine Mischung aus Ballett und Mord bezeichnet hat.
Eigentlich hätte Martin Steinegger im Hinblick auf die Playoffs auf dem Transfermarkt Ausschau nach einem typähnlichen Mann wie Tristan Scherwey halten können. «Dann hätte ich als zusätzlichen Ausländer Justin Abdelkader verpflichten müssen.»
Die Zuger haben kürzlich den 34-jährigen NHL-Haudegen (187 cm/97 kg) verpflichtet, der es auch in der härtesten Liga der Welt noch vor sechs Jahren auf mehr als 100 Strafminuten gebracht hat. Um vor den Playoffs an der «Muskelfront» nachzurüsten.
So einen Mann könnten die Bieler heute in Bern gegen Tristan Scherwey von der Leine lassen. Martin Steinegger sagt, warum er Justin Abdelkader den Zugern überlassen hat: «Wenn ich die Wahl zwischen Härte und spielerischen Qualitäten habe, dann verpflichte ich den besseren Spieler.»
Die Frage, die uns interessiert: Ist Biel ohne ein Raubein wie Tristan Scherwey überhaupt playofftauglich? Der SCB hat mit dem 62fachen Nationalspieler schon fünf Titel und zwei Cupsiege geholt – und Patrick Fischer WM-Silber. Biel war im Playoff-Zeitalter (seit 1986) nie mehr Meister.
Lars Leuenberger sagt nach dem 5:3 gegen den SCB: «Ja, wir sind inzwischen playofftauglich. Wir haben uns nach dem Ausgleich wieder aufgefangen, dem Druck standgehalten und die Partie doch gewonnen. In der ersten Saisonhälfte hätten wir dieses Spiel wahrscheinlich noch verloren…»
Tatsächlich reichte es dem SCB nach dem Check von Tristan Scherwey nur noch zum 3:4-Anschlusstreffer (Schlussresultat 3:5).
Der nächste Härtetest für die vermeintlich Playoff-Tauglichkeit folgt schon heute Abend. Die Bieler treten in Bern erneut gegen den SCB an. Und gegen Tristan Scherwey.