Früher waren die Ersatztorhüter nur da, um das Türchen an der Bande zu öffnen und für gute Stimmung zu sorgen. Die Klubs sparten sich das Geld für eine starke Nummer zwei.
Beim SC Bern verpasste etwa Renato Tosio 14 Jahre lang (1987 bis 2001) nicht ein einziges Spiel. Als sich abzeichnete, dass er am nächsten Spieltag Vater werden würde, bereitete sich Ersatzgoalie Reto Schürch gewissenhaft auf das Spiel seines Lebens vor. 20 Minuten vor Spielbeginn stürmte Renato Tosio, soeben glücklicher Vater geworden, in die Kabine, zog sich eiligst um und spielte doch. Die vier Jahre in Bern hinter Renato Tosio haben Reto Schürch wahrscheinlich eine ganz grosse Karriere gekostet. Von 1987 bis 2002 brauchte auch Kloten neben Reto Pavoni keine Nummer 2.
So geht es heute natürlich nicht mehr zu und her. Inzwischen dauert die Qualifikation nicht mehr bloss 36 Spiele wie zu Tosios und Pavonis Zeiten. Heute sind 52 Partien zu bestreiten, für die Spitzenteams kommen Einsätze in der Champions League dazu. Ein Torhüter allein kann diesen Arbeitsaufwand kaum mehr stemmen. Kommt dazu, dass immer wieder Teams erstaunliche Erfolge ihren zwei Goalies verdanken.
Leonardo Genoni und Reto Berra verlassen im Frühjahr 2007 gerade noch rechtzeitig die ZSC Lions. Gemeinsam wechseln sie zum HC Davos. Weil sie in Zürich keine Chance hatten, an Ari Sulander vorbeizukommen. 2009 werden sie gemeinsam Meister: Im Final gegen Kloten kommen beide zum Zuge. Heute sind Reto Berra bei Gottéron und Leonardo Genoni bei Zug die bestbezahlten Goalies der Liga.
Die SCL Tigers schaffen 2019 die Playoffs nur, weil nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Ivars Punnenovs sein Ersatz Damiano Ciaccio dazu in der Lage ist, das Team zu tragen. Ambri erreicht 2014 nach sieben Jahren auch deshalb die Playoffs wieder, weil sich Nolan Schäfer und Sandro Zurkirchen die Arbeit teilen. Beide spielen mehr als 20 Partien.
Servette wäre im letzten Frühjahr ohne Ersatztorhüter Daniel Manzato nicht in den Final gekommen. Kurz vor den Playoffs übernimmt er für den verletzten Gauthier Descloux.
Sean Simpson ist der Mann, der bei uns als erster konsequent zwei Goalies einsetzt. Im Herbst der Meistersaison 1997/98 haben die Zuger vier oder fünf Spiele hintereinander gewonnen und Sean Simpson fragt seinen Torhüter-Trainer, wen man heute Abend in Lugano einsetzen solle. Auf die Antwort, den Patrick Schöpf natürlich, der sei in bester Form, entgegnet Sean Simpson hellsichtig: «Aber wenn wir Meister werden wollen, brauchen wir zwei gute Goalies. Wir setzen heute Ronnie Rüeger ein.»
Und so kommt es, dass Ronnie Rüeger nicht zum Hinterbänkler wird, in den Playoffs die Zuger zum Titel hext und eine der grossen Goalie-Karrieren unseres Hockeys beginnt, die später auch in Lugano in meisterliche Höhen führen wird. Wäre er damals in Zug nicht zum Zuge gekommen, dann wäre sein Name längst vergessen.
Aber eben: Erst jetzt setzt sich mehr oder weniger bei allen Klubs die Einsicht durch, dass es einen starken zweiten Mann braucht. Wenn die Nummer 1 in der entscheidenden Phase ausfällt, kann die ganze Saison ruiniert werden. Sogar Kloten leistet sich inzwischen in der Swiss League mit Sandro Zurkirchen und Dominic Nyffeler zwei starke Goalies – Dominic Nyffeler hatte letzte Saison ausgerechnet während der Finalserie gegen Ajoie eine Formkrise ereilt.
Lugano hat bereits eine Ausländerlizenz für einen neuen zweiten Torhüter eingelöst (Leland Irving). Die Ankündigung, man habe notfalls mit Thibault Fatton und Davide Fadani gleich zwei vorzügliche junge Ersatztorhüter waren nur leere Worte. Weil sich die Langnauer das Geld für eine solide Nummer 2 gespart haben, mussten sie soeben mit Robert Mayer während der laufenden Saison einen zweiten Torhüter holen. Die Leihgebühr für die Verpflichtung bis Ende Januar beträgt knapp 30'000 Franken pro Monat.
Nun ist Sportchef Marc Eichmann bewusst, dass das Fehlen eines zweiten Goalies im Frühjahr 2023 bei der Wiedereinführung der Relegation die Liga-Zugehörigkeit kosten kann. Er ist auf der Suche nach einer starken Nummer 2. «Natürlich sind Ivars Punnenovs und Robert Mayer auf unserer Liste. Aber es gibt auch noch andere Namen…» Zu diesen Namen gehört Damiano Ciaccio. Obwohl sein Vertrag in Ambri noch bis 2023 läuft. Billig werden die «zweiten Männer» nicht.
Auch Servette, Zug, die ZSC Lions, Bern, Biel, Langnau, die Lakers oder Lugano brauchen auch für nächste Saison einen zweiten Mann. In Zürich steht Lukas Flüeler im letzten Vertragsjahr, Servette und Lugano haben gar keine brauchbare Nummer 2, in Bern laufen die Verträge von Philip Wüthrich und Daniel Manzato aus, in Biel das Arbeitsverhältnis mit Elien Paupe, in Langnau der Kontrakt mit Ivars Punnenovs und die Lakers haben mit Noel Bader noch nicht verlängert.
In der komfortabelsten Lage befindet sich Zugs Luca Hollenstein. Er ist so gut, dass er in Langnau, Ambri, Lugano, Genf und sogar in Zürich nächste Saison die Chance hätte, die Nummer 1 zu werden. Sein Agent (sein Name ist uns grad entfallen) kann bei den Verhandlungen mit Zugs Sportchef Reto Kläy pokern. Im Sinne: Gut, wenn ihr nicht wollt, dann gehen wir. Und so sind in Zug alle eifrig bemüht, Luca Hollenstein zu versichern, dass er auch hinter Leonardo Genoni zu einer guten Nummer 1 reifen könne. Damit er den Vertrag verlängert und nicht zur Konkurrenz wechselt.
Dabei zeichnet sich ab: Bleibt Luca Hollenstein in Zug, droht ihm das Schicksal einer «ewigen» Nummer 2. Weil die Situation in Zug eine besondere ist: Tatsächlich kann Luca Hollenstein künftig mit mehr als 20 Einsätzen pro Saison rechnen. Aber in jedem Spiel, das gewonnen werden muss und in den Playoffs wird Trainer Dan Tangnes IMMER Leonardo Genoni einsetzen. Trotzdem raten Luca Hollenstein fast alle – auch sein Agent – in Zug zu bleiben, weiterhin zu lernen und dann Leonardo Genoni 2024 zu beerben. Wenn denn Leonardo Genoni 2024 nicht verlängert.
Luca Hollenstein kann in Zug tatsächlich alles lernen, sogar die altgriechische Sprache. Nur eines nicht: das Handwerk einer Nummer 1. Aber nirgendwo lässt es sich als Nummer 2 so gut leben wie in Zug und Luca Hollenstein kann die bestbezahlte chancenlose Nummer 2 unserer Geschichte werden. Die erste Nummer 2, die gleich viel oder mehr verdient als anderswo die Nummer 1.
Der neue Bedarf an «zweiten Männern» spielt auch dem HC Davos in die Karten. Mit Gilles Senn und Sandro Aeschlimann haben die Davoser zwei Torhüter unter Vertrag. Aber sie müssen auch noch Robert Mayer bis 2024 löhnen. Die Chancen, dass Robert Mayer als neue Nummer 2 zu den ZSC Lions, nach Lugano oder Genf wechselt oder sogar in Langnau bleibt, sind hoch. Ivars Punnenovs' Marktwert ist durch eine Serie von Verletzungen zwar gesunken. Aber der neue Markt für «zweite Männer» kann ihm vielleicht doch noch einen neuen Vertrag mit dem bisherigen Salär (etwas mehr als 400'000 Franken) retten.
Der lettische Nationalgoalie ist dazu in der Lage, Spiele im Alleingang zu gewinnen. Sofern er nicht verletzt ist. Er hat seit 2015 in Langnau keine Saison ohne Verletzung durchgestanden. Aber ein Trainer hatte kürzlich eine interessante Idee: mit einem starken zweiten Torhüter Ivars Punnenovs während der Qualifikation entlasten und ihn dann in den Playoffs zum Helden machen.
Was aber stimmt, ist sicherlich das mit den wichtigen Spielen. Solange genoni fit ist, wird hollenstein kein wirklich wichtiges spiel bestreiten. Trotzdem sollte er bleiben und ihn dann beerben.