Das Spitzenspiel, das so arm an Spektakel und taktisch so lehrreich ist, lässt sich auf eine einzige Szene reduzieren. Biel hat endlich auf 1:2 verkürzt. Noch gut acht Minuten sind zu spielen. 33 Sekunden später: Biels Beat Forster, erfahren aus mehr als 1000 Partien, startet die Gegenattacke mit einem Pass quer durch die eigene Zone. In der Tiefe des Raumes liest Denis Hollenstein das Spiel. Der Zürcher ahnt, wohin die Scheibe kommen wird. Gute Spieler sind dort wo die Scheibe hinkommt. Sehr gute, schlaue dort, wo die Scheibe hinkommen wird. Denis Hollenstein trifft zum 3:1. Die Partie ist entschieden, Biel ist nicht mehr Tabellenführer.
Nun können wir polemisieren: wie kann Beat Forster nur! Mit seiner Erfahrung! Unverzeihlich! Er wird im Februar 39 und es ist Zeit für den Rücktritt! Und überhaupt: die Bieler haben viel zu spät endlich Tempo gemacht! So geht das nicht!
Aber das wäre sehr, sehr billige, ja bösartige Polemik. Beat Forster wird hinterher sagen, er habe eigentlich den Angriff anders auslösen wollen. Aber dann anders entschieden. Im letzten Augenblick sich für etwas anderes entscheiden ist im Hockey die häufigste Ursache für spektakuläre Fehler. Dass er anders entscheidet: auch das hat seine Logik. Wie eigentlich alles in diesem Spiel, das ein taktisches Lehrstück ist.
Die ZSC Lions spielen hochpräzises Schablonen-Hockey. Besseres sogar als der SCB in den meisterlichen Zeiten unter Kari Jalonen. Der grosse Finne hatte in Bern nicht die talentierteste Mannschaft der Liga. Er machte sie mit taktischer Ingenieur-Arbeit zur Erfolgreichsten. Rikard Grönborg verfügt über die beste Equipe der Liga. Den vierten Sturm führt mit Reto Schäppi ein WM-Silberheld. Bei Biel fehlen so viele spielerische Tenöre (Fabio Hofer, Jere Sallinen, Gaëtan Haas), dass Elvis Schläpfer, der Sohn des legendären Kevin Schläpfer, die vierte Formation dirigiert.
Die ZSC Lions kommen mit fünf ausländischen Spielern nach Biel (Noreau, Azevedo, Krüger, Quenneville, Roe). Biel könnte auch fünf einsetzen, hat aber nach dem ersten Drittel nur noch einen (Yakovenko). Victor Löövs Arbeitstag war nach 1:16 Minuten Eiszeit zu Ende. Er ist von einem Puck getroffen worden.
Unter solchen Voraussetzungen ist ein Sieg der ZSC Lions logisch, ja zwingend. Und doch fällt die Entscheidung erst in den letzten 10 Minuten. Das zeigt, wie tapfer, mutig und leidenschaftlich die Bieler trotz unzulänglichen personellen Voraussetzungen ihr Lauf- und Tempohockey zelebrierten. Und wie geduldig die Zürcher Schablonenhockey arbeiteten.
Wahrscheinlich hat noch nie zuvor in der Liga-Geschichte eine so gute Mannschaft schon im Herbst ein so extremes Systemhockey zelebriert. Wenn so viel Talent und Schlauheit nach dem exakt gleichen Schema ausgerichtet werden und wenn sich alle mit so strikter Disziplin an die taktische Befehlsausgabe des Trainers halten und mit der Präzision von Ingenieuren umsetzen – dann haben wir das perfekte Spiel.
Den ZSC Lions gelingt in Biel das perfekte Spiel. Die Bieler sind zwar optisch leicht überlegen (25:21 Abschlüsse). Aber je mehr sie sich anstrengen, desto mehr geraten sie in die taktischen Fesseln des Gegners. Wie bei den mexikanischen Fesselungen, bei der sich das Opfer immer mehr verstrickt, je mehr es sich zu befreien versucht. Hier haben wir die Erklärung für den Fehlpass von Beat Forster: es ist sein Versuch, mit einem riskanten Pass die taktische Fesselung zu lösen. Und er ist keineswegs zu alt. Sondern nach wie vor einer der härtesten, schlausten – also einer der besseren - Defensiv-Verteidiger der Liga. Kein Wunder, sagt Sportchef Martin Steinegger, er schliesse eine Vertragsverlängerung keineswegs aus.
Nie zuvor haben so viele so gute Spieler so perfekt und so diszipliniert so extremes Schablonenhockey gespielt wie die Zürcher im Herbst 2021. Nie zuvor hat ein Trainer so viel Talent in ein System gezwängt. Schwedische Hockey-Kultur in der edelsten Ausführung. Im Vergleich zu Rikard Grönborg ist Zugs Meistertrainer Dan Tangnes ein taktischer Freigeist und Improvisator.
Mit der taktischen Schablone werden Meisterschaften gewonnen. Oder verloren. Rikard Grönborg ist ein charismatischer «Schablonier»: ein auf System und Disziplin versessener weltmeisterlicher Bandengeneral, der mit seiner Präsenz jeden Raum füllt und jedes Gespräch dominiert. Er mahnt ein wenig an den legendären John Slettvoll, den Architekten, der das «Grande Lugano» (Meister 1986, 1987, 1988, 1990) auf dem taktischen Zeichentisch entworfen hat. Aber John Slettvoll hat es mit der Spielkontrolle übertrieben: am 10. Dezember 1991 gewinnt er mit Lugano in Bern 1:0 und wird taktisch grössenwahnsinnig. Im Frühjahr 1992 wird Luganos meisterliche Dynastie von den wilden, chaotischen ZSC Lions unter dem Kommando von Arno Del Curto im Viertelfinal gestürzt. Es ist der Anfang vom Ende der Karriere von John Slettvoll. Triumph, Risiko und Nebenwirkungen des «Schablonen-Hockeys».
Wird Rikard Grönborg in seiner dritten Saison in Zürich Meister oder ergeht es ihm wie John Slettvoll im Frühjahr 1992? Gelingt es den Zürchern, die spielerisch spektakuläreren Zuger zu entthronen? Das ist die Frage, die unsere Meisterschaft entscheiden wird. Die ZSC Lions haben in Biel mit meisterlicher Präzision 5:1 gewonnen. Aber sie haben auch schon zweimal – in Fribourg und gegen den SCB – 0:1 verloren.
Das «Schablonen-Experiment» der Zürcher lässt keinen Spieleraum offen: entweder gibt es eine meisterliche Krönung oder eine vaterländische Polemik. Mit diesem Hockey wird der Verstand beeindruckt. Wie bei Ingenieurs-Arbeit. Die einzige Wahrheit steht oben auf der Resultattafel. Aber mit diesem Hockey werden keine Begeisterungstürme entfacht und die Herzen und Seelen des Publikums zu wenig erwärmt.
Die Fortsetzung ist schon heute Abend überaus interessant. Die ZSC Lions haben es mit den SCL Tigers zu tun. Keine Grossmeister des spielerischen Spektakels wie die Bieler. Sondern Zauberlehrlinge des Energie- und Laufhockeys. Und die Bieler müssen sich schon wieder mit «Schablonen-Hockey» auseinandersetzen: sie treten in Bern an. Die Stadtberner waren einst «Schablonen-Meister». Aber jetzt unter dem schwedischen Trainer-Neuling Johan Lundskog nur noch Schablonen-Zauberlehrlinge.
P.S. Eigentlich ist Beat Forsters Fehlpass, der Biel die Niederlage gegen die ZSC Lions beschert und die Tabellenführung gekostet hat, eine Investition in die Zukunft und den Kabinenfrieden. Verteidiger Yannick Rathgeb (25) ist der produktivste Schweizer Verteidiger der Liga, neigt aber wie kaum ein anderer zu waghalsigen Risikoaktionen. Nun hat er eine gute Ausrede und kann fortan nach jedem Missgeschick sagen: «Aber dem Forster passiert so etwas auch – und der hat gut 700 Spiele mehr als ich bestritten. Mir fehlt einfach noch die Erfahrung.»
«Aber wenn sie keinen guten Torhüter haben, dann vergessen sie alles wieder was sie soeben gehört haben …»
Genau so verhält es sich auch mit diesem Artikel.