Oben auf der Uhr läuft die 93. Minute. Verteidiger Jordane Hauert stürmt mit in die gegnerische Zone. Viktor Östlund, ein schier unbezwingbarer Titan, lässt den Puck abprallen und Ajoies Captain trifft zum 3:2. Sein Team ist auferstanden. La Chaux-de-Fonds ist besiegt und führt in der Liga-Qualifikation nur noch 2:1.
Ausgerechnet Jordane Hauert. Am 13. Januar 2021 – vorletzte Saison also – hat er zum letzten Mal getroffen. Gegen Sierre in der Swiss League. Vor 811 Tagen. Eigentlich logisch. Sein Arbeitsplatz ist die eigene Zone. Als Verteidiger obliegt es ihm, Tore zu verhindern. Nicht Tore zu erzielen.
🎯🥅 Jordane Hauert schiesst den @HC_Ajoie_off in der Verlängerung ins Glück!
— MySports (@MySports_CH) April 5, 2023
Dank seines 1️⃣. NL-Treffers findet der HC Ajoie den Anschluss in der Ligaqualifikation. Die Jurassier verkürzen die Serie gegen La Chaux-de-Fonds auf 2:1.#IchbinFan | #NationalLeague pic.twitter.com/tzjHVIaLRo
Ausgerechnet Jordane Hauert. Der Sohn von Präsident Patrick Hauert (65), Vorsitzender seit 1999. Er hat Ajoie in der 1. Liga übernommen, in langen Jahren zum Cupsieg und zum Wiederaufstieg geführt und den Neubau des Stadions orchestriert. «Ich habe in der Aufregung gar nicht realisiert, dass Jordane das Tor erzielt hat. Meine Frau hat mich dann darauf aufmerksam gemacht …», sagt Vater Hauert.
Ausgerechnet Jordane Hauert. Wahrscheinlich der beste Verteidiger unserer Geschichte, der aus beruflichen Gründen und aus Treue zur Heimat, zur Ajoie und zum HC Ajoie auf eine grosse Karriere in der höchsten Liga verzichtet hat. Es ist beim Sommertraining und der Saisonvorbereitung beim SC Bern und elf Partien als Leihspieler in der Fremde geblieben: zehn für Biel und eine für Langnau. Erst der Aufstieg mit Ajoie im Frühjahr 2021 hat ihn doch noch in die höchste Spielklasse geführt.
Im Alter von 15 Jahren hat er erstmals für Ajoie in der damaligen NLB verteidigt. Nach dieser Saison wird er die Schlittschuhe nach über 1000 Spielen für Ajoie an den Nagel hängen und sich ganz auf die Arbeit im familieneigenen Unternehmen konzentrieren. Auf die Herstellung hochwertiger Uhrengehäuse. Auf die Führung einer Firma mit 150 Arbeitsplätzen.
Jordane Hauert ist der unerschütterliche Captain eines erstaunlichen Klubs. Kurz vor Mitternacht steht er freundlich Red und Antwort. Würde er nicht in der ritterähnlichen Ausrüstung stecken und in eisernen Schuhen stehen, wäre nicht einmal zu erahnen, dass er soeben einen mehr als dreistündigen, aufreibenden Wettkampf hinter sich hat. Nicht verschwitzt und erstaunlich frisch. Ohne zu zögern, sagt er auf die entsprechende Frage: «Ja, das war das wichtigste Tor meiner Karriere.» Es ist sein erster Treffer in der höchsten Liga. Ein Tor, das seinen Vater um zehn Jahre verjüngt hat.
Es ist erstaunlich, wie ein Hockey-Drama einen Menschen älter und dann wieder jünger machen kann. 25. März. Ajoie verliert die sechste Partie der Playouts gegen Langnau in der Verlängerung 4:5. Nun ist klar: Der Platz in der National League muss gegen La Chaux-de-Fonds verteidigt werden. Patrick Hauert wahrt die Fassung. Ein Sportsmann durch und durch. Aber er wirkt zehn Jahre älter als vor dem Match. Traurige Augen und hängende Schultern verraten, wie sehr ihn dieses sportliche Drama mitgenommen hat.
Und nun wirkt er zehn Tage später wie nach der Rückkehr aus einem langen Erholungsurlaub. Gut gelaunt, aufrechter Gang, strahlende Augen. Als sei er zehn Jahre jünger geworden. Sein Sohn hat in der Verlängerung getroffen. «Sein» Ajoie stand am Abgrund der Relegation. Nun ist «sein» Ajoie auferstanden. Noch nicht gerettet. La Chaux-de-Fonds führt in der Serie immer noch 2:1. Aber Mut, Glaube und Zuversicht sind wieder da. Patrick Hauert sagt: «Wir haben die Dämonen vertrieben.»
Die bange Frage bleibt trotzdem: Was ist, wenn Ajoie doch relegiert werden sollte? Stimmt es, dass es keinen Plan B für diesen Fall gibt? Präsident Hauert erwidert, natürlich gebe es einen Plan B. Er schaut sich um: «Sehen Sie unser Stadion! Glauben Sie denn, wir würden das alles aufgeben? Der Plan B ist, dass wir nie aufgeben.»
Ajoie mag besiegt werden. Aber Ajoie, der Stolz des Kantons Jura, die jurassische Nationalmannschaft, kapituliert nie. Der Plan B – über den niemand spricht, solange die Hoffnung lebt – ist ja gar nicht so kompliziert. Die Mannschaft zusammenhalten und nach einer «Ehrenrunde» in der Swiss League zurückkehren. Die Spieler zu halten, wäre nicht schwierig. Keiner könnte im Falle einer Relegation mit einem lukrativen Angebot aus der National League rechnen. Und wo wäre das Hockey-Leben im Falle eines Falles in der zweithöchsten Liga aufregender, besser als beim HC Ajoie? Eben.
Dieser Verlängerungssieg, der Ajoie wieder Leben einhaucht und einen ganzen Kanton aufatmen lässt, ist wahrlich bemerkenswert. Das Spiel ein Drama. Ajoie hat die spielerische Brillanz verloren. Im Herbst 2015 sind Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen ins Elsgau (die deutschsprachige Bezeichnung für Ajoie) gekommen. Seither hat Ajoie nur ein einziges Spiel ohne die beiden kanadischen Stürmer bestritten: am 24. Februar gegen die SCL Tigers. Devos war verletzt, Hazen gesperrt. Trotzdem sind die Langnauer in einem für Ajoie bedeutungslosen Spiel 1:0 besiegt worden.
Aber nun geht es am 4. April gegen La Chaux-de-Fonds um den Ligaerhalt. Die Neuenburger haben die beiden ersten Partien gewonnen (3:2 und 4:1). Dieses dritte Spiel der Liga-Qualifikation ist das wichtigste seit dem Wiederaufstieg. Eine weitere Niederlage wäre der Anfang vom Ende. Und ausgerechnet jetzt fehlen Philip-Michël Devos und Jonathan Hazen. Blessuren verunmöglichen einen Einsatz. Zum ersten Mal seit acht Jahren muss Ajoie in schweren Stunden ohne seine beiden Kanadier auskommen. Was die Sache noch schlimmer macht: Auch der wehrhafte Frédéric Gauthier ist verletzt. Die drei besten Stürmer fehlen.
Nun müssen Mut, Leidenschaft, Intensität und Energie spielerische Schlauheit und Eleganz ersetzen. Noch nicht oft hat eine Mannschaft ihren Gegner in einem ersten Drittel mit solcher Wucht überrollt wie Ajoie den HC La Chaux-de-Fonds. 22:13 Torschüsse werden offiziell von der Liga für die ersten 20 Minuten notiert. In jeder Minute muss der wehrhafte Riese Victor Östlund (193 cm) eine Heldentat vollbringen. Aber La Chaux-de-Fonds hält dagegen. Die Neuenburger hängen in den Seilen wie einst Muhamad Ali gegen Joe Frazier. Aber wie Ali sind sie dazu in der Lage, schmerzhaft zu kontern. Nach 20 Minuten führen sie 1:0 und nach 32 Minuten 2:0.
Ajoie gibt nicht auf. Aber die offizielle Torschuss-Statistik zeigt: Die Dynamik des ersten Drittels wird nicht mehr erreicht. 22:13, 12:11 und 10:7 in der regulären Spielzeit. 10:9 und 7:10 in der Verlängerung. Und doch gelingt es dem Captain, die Partie zu entscheiden. Wir haben in dieser Partie das beste Ajoie der Saison gesehen. Winston Churchill hätte gesagt: «Ajoies finest hour».
Ajoie gegen La Chaux-de-Fonds ist ein Hockey-Drama, das selbst die Playoffs in den Schatten stellt. Und Ajoie wird getragen vom vielleicht besten Publikum unseres Hockeys. Nie wird der Gegner geschmäht. Nie gibt es Pfiffe. Nie erlahmt die akustische Unterstützung. Sie ist wie ein nicht versiegender Strom. Wenn je Energie von einem Publikum auf die Spieler übertragen worden ist – dann in dieser Partie. Eignet sich denn ein Klubname besser für Fangesänge als Ajoie («Aschua»)? Nein.
Aber Ajoie ist noch nicht gerettet. Es fehlen nach wie vor drei Siege. Nächster Akt in diesem Drama: am Donnerstag in La Chaux-de-Fonds.