Beginnen wir mit Statistik. Zahlen. Klar und wahr. So vertreiben wir den Schwefelgeruch von Parteilichkeit oder gar Polemik. Langenthal verteidigt gegen die zweitmächtigste Offensive der Liga mit einer «Boygroup». Even Helfer (20) ist 17:48 Minuten im Einsatz, Yann Voegeli (18) 13:43 Minuten, Cédric Aeschbach (20) 20:15 Minuten und Nick Meile (19) 10:32 Minuten.
Der kundige Laie denkt: was für herrliche Aussichten für die offensiven Titanen aus Olten. Für Sean Collins, Stanislav Horansky, William Rapuzzi, Simon Sterchi, Timothy Kast, Andri Spiller oder Lukas Lhotak. Bestandene, kräftige Männer des stürmischen Handwerkes im Alter von 28 bis 34 Jahren. Ein wenig aufs Gaspedal des Forecheckings (der Störarbeit im gegnerischen Verteidigungsdrittel) drücken und der Weg ist frei. Mit ein bisschen Ehrgeiz ist ein «Stängeli» (zehn Tore) das Ziel. Mindestens.
Aber Oltens Stürmern gelingt in 64 Minuten und 33 Sekunden ein einziger zügiger, direkter, leichtfüssig vorgetragener, zwingender Angriff, der die Morgenröte eines Aufstieges erahnen lässt. Abgeschlossen wird er von Verteidiger Victor Oejdemark zum 0:1. Die zwei anderen Tore von Timothy Kast und der Siegestreffer in der Verlängerung von Simon Sterchi zum 3:2 sind das Resultat harter Arbeit. Wie kann es sein, dass sich Langenthals verteidigende Flaumbärte gegen Stürmer behaupten können, die zu Land, zu Wasser und in der Luft – in jeder Beziehung also – überlegen sind?
Es ist die ganz besondere Ausgangslage. Olten hat Angst. Angst vor der vielleicht grössten Schmach seiner neueren Geschichte. Angst frisst Offensive. Langenthal hingegen hat keine Angst. Die Langenthaler befinden sich auf der letzten Reise. Ende Saison ist Schluss. Das Team wird aufgelöst und eine Liga tiefer in der MyHockey League wieder zusammengesetzt. Von jenen, die da gegen Olten zum letzten Hurra antreten, werden vielleicht noch drei oder vier dabei sein. In Langenthal geht ein boshafter Scherz um. Was ist der Unterschied zwischen der Titanic und dem SC Langenthal? Keiner. Beide schienen unsinkbar und bei beiden brennen die Lichter und spielt die Musik bis zum Untergang. Und wahrlich, am Donnerstag brannten die Lichter im Schoren und Langenthals Musikanten spielten auf dem Eis tapfer wie einst die Schiffskapelle von Wallace Hartley auf der Titanic.
Eishockey wird, wir wissen es seit mehr als 100 Jahren, nicht nur mit Armen und Beinen, sondern ebenso in den Köpfen der Spieler entschieden. Angst gegen Mut also. Die Oltner mahnen an eine Gruppe pflichtbewusster Männer, die den Auftrag haben, Kisten mit kostbarem chinesischem Porzellan in dunkler Nacht zum Sälischlössli auf den Berg bei Olten hinaufzutragen. Ja nicht stolpern! Jeden Schritt vorsichtig abwägen! Sicherheit zuerst! Aufpassen! Sorg ha!
Mut mag die Mutter der Porzellankiste sein. Aber nicht die Tante des Aufstieges. Statt Langenthals defensiven «Kinderarbeitern» kurzentschlossen den Puck wegzunehmen, sie mit ein bisschen strenger Härte fortzuscheuchen, pirschen sich Oltens Stürmer vorsichtig in die gegnerische Zone. Nur ja nicht noch einmal wie im ersten Spiel in Konter laufen! Absichern! Aufpassen! Ganz offensichtlich sitzt der Schock der Niederlage im ersten Spiel auf eigenem Eis (2:5) noch tief. Die zweitproduktivste Angriffsmaschine der Liga schnurrt höchstens im Standgas. Oltens Titanen der Offensive erstarren in Angst vor Langenthals Zwergen der Defensive. Die fordernde Art von Coach Lars Leuenberger dürfte sich in dieser Extremsituation eher lähmend als motivierend auswirken.
Nach Langenthals Ausgleichstreffern zum 1:1 und 2:2 geht für den Aussenseiter für ganz kurze Zeit das Fenster zur erneuten Sensation auf. Langenthals Trainer Kevin Schläpfer hadert noch eine halbe Stunde nach dem Spiel mit den Hockey-Göttern. Ach, wäre es doch gelungen, diese Schwächemomente auszunützen! Um dann diese Gedanken zu verscheuchen, mit der Faust in die Handfläche zu schlagen und mit funkelnden Augen seine Jungs zu rühmen und mit grossem, freudigem Herzen dem dritten Spiel entgegenzublicken. Lucas Rötheli (20) hat die Oltner am Donnerstag gerettet. Der Junioren-Nationaltorhüter ist noch kein Hexenmeister. Erst ein Zauberlehrling. Aber was für einer: cool, teuflisch schnelle Reflexe. Keinen Puck lässt er abprallen. Sein Vater André stürmte einst für Olten in der höchsten Liga, ehe er in Zug, Lugano und Bern zu meisterlichen Ehren stürmte.
Jeffrey Füglister (33), ein weitgereister Veteran aus dem Züribiet, verloren im Niemandsland zwischen der höchsten und zweithöchsten Liga, zurzeit noch auf Klotens Lohnliste und Leiharbeiter bei Langenthal, macht nach dem Spiel eine treffende Bemerkung: Langenthal sei eben ein ganz besonderer Verein. Mit einem aussergewöhnlichen Zusammenhalt.
Wir können es so sagen: Die Langenthaler sind die verlorenen Seelen des Profihockeys mit einer meisterlichen DNA. Sie haben in den letzten neun Jahren dreimal die Meisterschaft der zweithöchsten Liga gewonnen. Desperados mit den Herzen von Champions. Löwen, verraten von den städtischen Eseln der Politik und einem hoffärtigen, bornierten Klubmanagement. Geführt von Kevin Schläpfer, dem vielleicht besten Motivator unserer Hockeykultur.
Kann es sein, dass Olten scheitert? Ja, das kann sein. Die Serie steht ja 1:1. Aber es wäre letztlich gegen jede Logik. Überstehen die Oltner diese Feuerprobe, dann werden sie viel, viel besser, befreit, erlöst und vielleicht gar aufstiegsbereit sein. «But it‘s not over till the fat lady sings.»