Die Szene könnte nicht in einen Hollywood-Film eingebaut werden. Zu kitschig, zu dramatisch und völlig unrealistisch. So etwas passiert im richtigen Eishockeyleben sicher nicht. Schon gar nicht einer von einem schwedischen Trainer strukturierten Mannschaft.
Garrett Roe ist einer der teuersten, besten, flinksten und smartesten Spieler der Liga. Der Amerikaner hat die ZSC Lions 1:0 in Führung gebracht. Inzwischen steht es 1:1. Und nun spielt er in der eigenen Zone einen Pass blindlings in die Mitte. Um einen Angriff auszulösen. Der Puck landet bei einem gegnerischen Spieler. Aber nicht etwa bei einem Hinterbänkler mit hölzernen Händen. Sondern ausgerechnet auf der Stockschaufel von Toni Rajala. Biels bestem Vollstrecker. Er ist einer der besten Kunstschützen der Liga.
Der Finne trifft zum 2:1. Die Uhr wird bei 28 Minuten und 12 Sekunden angehalten. Es ist bereits der Siegestreffer. Die ZSC Lions können nicht mehr ausgleichen und verlieren schliesslich 1:3. Es ist das dümmste, unhaltbarste und vielleicht folgenschwerste Tor, das die Zürcher bisher in dieser Saison kassiert haben. Ohne jede Boshaftigkeit dürfen wir vermuten: Ohne diesen Fehlpass hätten die ZSC Lions dieses Spiel gewinnen können. Dieser Gegentreffer ist durch die Art und Weise seiner Entstehung wie ein Stich ins Hockey-Herz der Zürcher.
In Langnau hinten wäre so ein Fehlpass wie ein Naturereignis demütig hingenommen worden. Nach dem Motto: Wir sind halt die Miserablen. So etwas passiert nur uns. Aber es hat ja schon einen Grund, warum wir diese Saison mehr als 200 Tore kassiert haben. Wahrscheinlich hätten die Fans den unglücklichen Fehlpasser nach dem Spiel in der Stadionbeiz mit einem Bier und guten Worten getröstet und aufgemuntert: Ist ja halb so schlimm.
Aber dieses Fehlzuspiel passiert im defensiven Maschinenraum der ZSC Lions. Ein blind gespielter Fehlpass in der eigenen Zone auf die Stockschaufel des abschlussstärksten gegnerischen Stürmers. So etwas scheint bei einer von einem weltmeisterlichen Schweden gecoachten, trainierten, programmierten, strukturierten, organisierten, schablonisierten, taktisch gebürsteten und gekämmten Mannschaft doch absolut, einfach absolut unmöglich. Und doch ist es passiert. Hollywood, definitiv Hollywood.
Gewinnt Biel auch am Samstag im eigenen Stadion, dann ist die Saison für die ZSC Lions zu Ende. Und ZSC-Sportchef Sven Leuenberger wird seinen Trainer Rikard Grönborg (mit Vertrag bis Ende der nächsten Saison) bei einer Analyse nicht im Stil eines Freundes befragen. Sondern eher im Ton eines Untersuchungsrichters: Letzte Saison im Halbfinal gescheitert und den Cup-Final verloren und nun schon nach dem Viertelfinal Lichterlöschen. Ist der angeklagte Schwede schlau, senkt er demütig den Kopf und sagt: «Ja, ja, Sven, Du hast recht. Aber schau nach Bern: Dort ist der Johan bloss 11. geworden und wird trotzdem gerühmt und darf bleiben. Wenn er unschuldig am Misserfolg ist, dann bin ich es auch.» Wo er recht hat, da hat er recht.
Aber noch ist es nicht so weit. Für Rikard Grönborg ist nach wie vor beides möglich: Tribunal oder Triumph. Scheitern oder Meisterfeier. Zwar spricht auf einmal bei den ZSC Lions alles für dramatisches Scheitern. Oder doch nicht? Gegen Gottéron, die Lakers, Davos, Lausanne, Zug sowieso oder Lugano wäre es so. Aber nicht gegen Biel.
Die Frage ist nämlich, ob die Bieler von den Dämonen des 6. Aprils eingeholt werden. Nein, nicht weil Napoléon ausgerechnet am 6. April 1814 als Kaiser der Franzosen abgedankt hat. Viel schlimmer: Am 6. April 2019 hat Biel auf eigenem Eis in einer genau gleichen Situation in einem 6. Spiel einer Playoffserie die dramatischste Niederlage seit dem Wiederaufstieg von 2008 erlitten.
Biel gewinnt Spiel 5 am 4. April 2019 in Bern 2:0 und führt im Halbfinal gegen den SCB 3:2. Mit einem Sieg am 6. April stehen die Bieler zum ersten Mal in ihrer Geschichte im Playoff-Final. Aber sie verlieren bei 38:19 Torschüssen auf eigenem Eis 0:1 und dann zwei Tage später die 7. Partie in Bern sang- und klanglos 1:5. Der SCB rückt in den Final vor und wird zum bisher letzten Mal Meister. Gegen ein Zug, das auch die Bieler vom Eis gefegt hätten.
Was, wenn die Dämonen des 6. Aprils zurückkehren, Biel am Samstag verliert und zum 7. Spiel ins Hallenstadion reisen muss? Prognosen sind schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen.
Und wie steht es mit einer fachlichen Analyse? Nach fünf Partien lautet das Torverhältnis 11:10 für Biel. Es ist eine der ausgeglichensten Playoffserien unserer Geschichte. Was im 5. Spiel Gospel ist, kann im 6. Spiel bereits ein Irrtum sein. Die klügste Analyse von heute ist womöglich die Torheit von morgen. Eigentlich ist diese Serie das, was Eishockey eigentlich schon immer ein wenig war und immer sein wird: Ein Glücksspiel auf rutschiger Unterlage.
Dazu passt: Thomas Roost ist einer der angesehensten und einflussreichsten Scouts in Europa. Er arbeitet auch für den EHC Biel und so kommt er fürs 5. Spiel ins Hallenstadion. In diesen Tagen ist er aber auch noch mit einem ganz besonderen Auftrag beschäftigt: Er rekrutiert Personal für ein … grosses Schweizer Kasino.
Das passt zu diesem völlig unberechenbaren Viertelfinal: Ein Scout, der sich mit Hockeyspielern und Croupiers zu befassen hat. Wie gesagt: Eishockey mit diesen ZSC Lions und diesen Bielern ist ein legales Glücksspiel. Ici c’est Bienne ! Les jeux ne sont pas encore fait et on n’est pas encore au bout des surprises.
Lieber Garrett Roe, Du darfst morgen in Biel gern weiter solche Pässe spielen, dann bleiben uns auch die Dämonen des 06. April erspart 😉
Ici c'est Bienne ❤ 💛