Taktik und Statistik interessieren vor allem die Trainer und seine Assistenten. Sie mögen Berechenbarkeit und Stabilität. So viel davon wie bei diesem Sieg der SCL Tigers über den SC Bern hat es bei einem Derby seit 1974 nicht mehr gegeben. Damals trennten sich der SC Langnau und der SC Bern vor ausverkauftem Haus (5000 Fans) 0:0. Auch am Samstag endete das Spiel vor 6000 Fans (das Stadion ist heute eben grösser) eigentlich 0:0. Trotzdem haben die Langnauer 2:1 gewonnen.
Populär ist in erster Linie die Skorerliste, die aufzeigt, wer am meisten Tore und Assists produziert hat. Oder die Strafenstatistik. Sie stellt die Bösewichte an den Pranger.
Trainer und ihre Assistenten interessieren sich mehr für die Plus/Minus-Statistik. Sie zeigt auf, bei wie vielen Plus- bzw. Minustoren ein Spieler auf dem Eis steht. Sie entlarvt die defensiv Nachlässigen und Undisziplinierten. Ein wenig ist diese Statistik ungerecht. Denn nicht jeder trägt zu einem Torerfolg bei und nicht jeder ist schuld, wenn es hinten einschlägt. Damit diese Statistik möglichst gerecht ist, werden nur Tore gezählt, die dann fallen, wenn beide Mannschaften gleich viele Spieler auf dem Eis haben.
In ganz seltenen Fällen sind beide Trainer beim Studium dieser Statistik mit allen zufrieden: Dann nämlich, wenn die Spieler bei beiden Mannschaften mit einer persönlichen 0:0-Bilanz vom Eis gehen.
So wie beim samstäglichen Sieg von Thierry Paterlini gegen Jussi Tapola. Alle haben 0:0 gespielt. Die drei Tore sind im Powerplay gefallen. Soweit in den Archiven ersichtlich, hat es ein 0:0 für alle beim Derby letztmals vor 50 Jahren gegeben. Das Spiel endete 0:0. Verlängerungen, Penalty-Ausmarchungen und Playoffs gab es 1974 noch nicht. Bei Langnau hütete Michael Horak das Tor, beim SCB Jürg Jäggi. Bei Langnau stand Kurt Sepp an der Bande, den SCB dirigierte Spielertrainer Paul-André Cadieux.
Und nun also Thierry Paterlini gegen Jussi Tapola. Thierry Paterlini ist ein taktischer Finne. Als Trainer unseres U18- und U20-WM-Teams hat er unter schwierigsten Bedingungen gelernt, mit unzulänglichen spielerischen Mitteln gegen Titanen zu bestehen und nach Niederlagen sofort wieder aufzustehen.
Diese Saison haben sechs und später acht Niederlagen in Serie seine Zuversicht und Autoritätsposition nicht erschüttert. Und nun hat er einen Tag nach einem miserablen Spiel in Ambri (1:5, elf Spieler mit einer Minus-Bilanz) den SC Bern gebodigt (2:1). «Wir haben gleich nach dem Spiel in Ambri noch in der Kabine Klartext gesprochen. Uns war allen klar, dass es so nicht geht und eine Reaktion folgen muss.» Nein, er habe nicht getobt. Wichtiger als die Lautstärke seien die richtigen Worte:
Die Reaktion auf das 1:5 vom Vortag in Ambri ist also gelungen, nun geht es mit einem guten Gefühl in die Nationalmannschaftspause. Die Spieler bekommen bis am nächsten Donnerstag frei.
Das Berner Derby ist nicht nur wegen der starken Reaktion der Langnauer bemerkenswert. Dieses Derby ist vor allem taktisch interessant. Jussi Tapola hat eine taktische Grube gegraben und ist selbst hineingefallen.
Hätte der SCB in Langnau gleich mit Vollgas losgelegt, mit intensiver Störarbeit (Forechecking) tief in der gegnerischen Zone wären die Langnauer wohl untergegangen. Der SCB mag eines der langsamsten Teams der Liga sein. Aber auch die SCL Tigers sind kein «Hochgeschwindigkeits-Team».
Jussi Tapola wählte die Taktik, die den SCB in den Playoffs gegen die nominell besseren Titanen der Liga noch weit bringen kann. Eine Taktik, die am Ende ihrer Entwicklung eine meisterliche sein kann. Eine Taktik, die Finnland schon mehrere WM-Titel und einen Olympiasieg eingebracht hat. Die Taktik der Spielkontrolle. Der elastischen Defensive. Der geschlossenen Räume aus deren Tiefe gekontert wird. Keine Emotionen. Keine Provokationen. Intellektuelles Kopfhockey. Wie zu den Zeiten des Ruhmes und des Glanzes unter Kari Jalonen (zwei Titel in drei Jahren). Wie am Vorabend beim 3:0 gegen Kloten.
Dem SCB gelingt im ersten Drittel die perfekte Umsetzung der weltmeisterlichen finnischen Defensivtaktik. Der SCB trifft im ersten Powerplay zum 1:0 und kontrolliert fortan das Spiel zu Wasser, zu Land und in der Luft. Keine freien Räume für die Langnauer, nur mühseliges Durchkommen in der neutralen Zone und das SCB-Tor ist verriegelt. Sie werden bis zum Schluss bei fünf gegen fünf Feldspieler keinen Stich machen. Der SCB aber auch nicht. Sämtliche Spieler haben das Derby mit einer 0:0-Bilanz beendet.
Jussi Tapolas Rechnung geht nicht auf. Weil die Langnauer ihre zwei ersten Powerplays zum 1:1 (32. Minute) und zum 2:1 (40. Minute) nützen. Trotz totaler Spielkontrolle muss der SCB das Schlussdrittel mit einem 1:2-Rückstand beginnen und kann am Resultat nichts mehr ändern.
Jussi Tapola ist in die taktische Grube gefallen, die er den Langnauern gegraben hat: Zu den Besonderheiten des Hockeys gehört es, dass es nahezu unmöglich ist, während des Spiels eine Taktik zu ändern. Beginnt eine Mannschaft mit einer defensiv-passiven Grundeinstellung, dann ist es extrem schwierig, auf Vollgashockey umzustellen.
Thierry Paterlini ist nicht in Jussi Tapolas Falle getappt. Er hat als Aussenseiter auf die gleiche Taktik gesetzt. Die Langnauer sind nie übermütig geworden, sie haben nie provoziert und Emotionen sorgsam vermieden. Unter Thierry Paterlini setzen die Langnauer an einem guten Abend die finnische Defensivtaktik erstaunlich gut um. Eine taktische Entwicklung, die ihnen zwar nicht – wie dem SCB – den nächsten Titel, aber vielleicht doch noch das Play-In bringen kann.
Im Schlussdrittel kontrollieren die Langnauer den SCB exakt so, wie sie vom SCB bis zur Spielmitte kontrolliert worden sind. Und so kann Thierry Paterlini hinterher sagen: «Im letzten Drittel waren wir nie mehr in Gefahr.» Die Sicherheit sei so gross gewesen, dass nie das Gefühl aufgekommen sei, es könnte noch etwas schiefgehen. Und das in einem Derby bei einer Führung von bloss 2:1.
Immerhin steht Langnaus Trainer vor den schönsten Tagen seit dem Amtsantritt im Sommer 2022: Die Hockey-Glücksgefühle erreichen im Emmental, Entlebuch und im südlichen, wilden Teil des Oberaargaus den höchsten Stand nach einem Sieg über den SCB. Nun können die Langnauer dieses Glück sage und schreibe 13 Tage lang, bis zum 16. Februar, geniessen, ohne dass es durch eine Niederlage getrübt werden kann. Das nächste Spiel folgt erst am 16. Februar auf eigenem Eis gegen Schlusslicht Ajoie.
Thierry Paterlini sagt: «Dieses Spiel müssen wir einfach gewinnen.» Die Mannschaft darf nicht ausgerechnet gegen Ajoie schon wieder umfallen.
Das Problem: Ajoies Trainer Christian Wohlwend ist als ehemaliger Junioren-Nationaltrainer ein ähnlicher Taktiker wie Thierry Paterlini. Setzen die Langnauer gegen den Aussenseiter Ajoie auf eigenem Eis auf die gleiche Taktik wie gegen den Titanen SC Bern, dann wird es ihnen ergehen wie am Samstag dem SCB in Langnau.