Wie war das eigentlich damals bei den Pyramiden? Auf der Akropolis? Bücher darüber füllen Bibliotheken. Aber wir wissen es nicht. Wir können es nur erahnen. Womit wir bei der Valascia sind.
Wir fahren durch die Leventina Richtung Gotthard. Es ist einer dieser wunderbaren, melancholischen Novembertage. Das Dorf Ambri liegt bereits im Winterschatten. Die Berghänge mit frischem strahlend weissem Neuschschnee liegen noch im Sonnenlicht. Bei der Ortseinfahrt Ambri fragt mein Begleiter, sportlich interessiert, aber noch nie bei einem Ambri-Heimspiel: «War hier nicht irgendwo die Valascia?» Ja, hier war die Valascia. Und die Neugierde ist geweckt: Wie sieht denn dieser Kraftort unseres Eishockeys, dieser mythische Hockeytempel jetzt aus? Ambri zelebriert ja seine Heimspiele inzwischen in der neuen, modernen Gotthardarena drüben am Rande des ehemaligen Militärflugplatzes.
Wo die Valascia war, ist mir noch bekannt. Da vorne links abbiegen. «Was, hier war die Valascia?» Ja, hier war sie. Es ist unfassbar. Erst jetzt können Verstand und Herz erfassen, dass es die Valascia nicht mehr gibt. Dort, wo der Hockey-Tempel stand, ist ein leerer, topfebener Platz. Einfach leer. Nicht einmal ein Parkplatz. Geblieben sind nur noch auf der Bergseite die Sockel, auf denen das Dach ruhte. Fast wie die Säulen der Akropolis. Gleich dahinter beginnt der Schutzwald, der das Dorf vor Lawinenniedergängen schützt.
Was würden uns Archäologen und Geschichtsforscher in 1000 Jahren über diesen Platz, so nahe am Berghang, mit diesen seltsamen Säulen am Rande erzählen? Sie würden von einem Tempel fabulieren. Nicht von einem Hockeytempel natürlich. Sondern von einer Kultstätte. Es würde vermutet, dass hier versucht worden ist, den Zorn der Götter der Berge zu besänftigen. Sicherlich habe man sich hier regelmässig zu Zeremonien versammelt. Ein Kraftort sei das gewesen. Vermutlich sei das Tal während des ganzen Jahres bewohnt worden. Militärischen Ursprunges sei die Anlage wohl nicht. Es sei wohl nicht möglich gewesen, an dieser Stelle das ganze Tal abzuriegeln und Wegzoll zu verlangen. Es handle sich also ganz eindeutig um eine religiöse Kultstätte.
Ganz falsch wären solche Theorien nicht. Tatsächlich hat sich hier die Talschaft zwischen Herbst und Frühjahr regelmässig versammelt. Und ja, es war ein Kraftort. Ein Hockeytempel.
Aber die Ruinen der Valascia sind irgendwie seelenlos. Die Magie der Siegeshymne «La Montanara» ist nicht mehr zu spüren, nicht einmal mehr zu erahnen. Vergessen sind die Kämpfe, die Triumphe und Dramen der Helden in ritterähnlichen Ausrüstungen und eisernen Schuhen. Etwas ist verloren gegangen.
Stadien, Hockeytempel werden auf der ganzen Welt abgerissen und am gleichen oder an einem anderen Ort neu erbaut. Das Forum zu Montréal, mythisch wie die Valascia, ist auch nicht mehr und längst spielen die Canadiens im nicht einmal zwei Kilometer entfernten neuen Centre Bell. Aber das Forum ist nicht einfach verschwunden. Nun finden wir auf dem Areal einige Ladengeschäfte und ein Kino. Ein paar Sitzplätze und die Abzeichnung des alten Spielfeldes erinnern weiterhin an vergangene Tage. Im Eingangsbereich ist für jeden gewonnenen Stanley Cup eine Markierung in den Boden eingelassen. Insgesamt 24 Plaketten. Seit die Canadiens nicht mehr im Forum spielen, haben sie nie mehr einen Stanley Cup gewonnen. Vielleicht haben sie durch den Auszug aus dem Tempel den Beistand der Hockey-Götter verloren. Aber immerhin lebt hier die Erinnerung noch.
Was die Ruinen der Valascia so stark von anderen verschwundenen Hockey-Tempeln unterscheidet: Sie liegen am Rande eines Dorfes und am Fusse eines Berges. Nicht in einer urbanen Gegend. Sie bleiben gut sichtbar und eine Überbauung oder eine Umnutzung in einen Unterhaltungs- oder Einkaufkomplex wie beim Forum oder beim Maple Leaf Gardens in Toronto ist nicht zu erwarten. Das Terrain liegt in der roten Lawinen-Gefahrenzone.
Die Valascia ist zum einzigen Hockey-Tempel für die Ewigkeit geworden. Vielleicht werden Archäologen diese Ruinen in 1000 Jahren noch finden, wenn die Stadt Lugano längst im Mittelmeer versunken und die Spitze des Monte San Salvatore nur noch ein Inselchen ist wie die Isola Bella im Lago Maggiore. Ambri hat, anders als Lugano, etwas für die Ewigkeit. Also etwas, was Lugano nie haben wird. Es hat schon einen Grund, warum seine Anhänger die wahre Hockey-Kultur für sich reklamieren. Il Ticino è biancoblu.
Aber auch Lugano hat etwas, was für Ambri immer ein unerfüllbarer Traum bleibt: meisterlichen Ruhm. Dazu passt, dass der sportliche Architekt des modernen HC Lugano, der von den Anhängern schon zu Aktivzeiten als Magier verehrte John Slettvoll (79), ausgerechnet am Freitag vor dem Derby gegen Ambri in die Ruhmeshalle des Klubs aufgenommen worden ist. Der Schwede formte Luganos erste Meisterteams (1986, 1987, 1988, 1990) und zettelte eine sportliche Revolution an, ohne die unser Hockey nicht das wäre, was es heute ist.
Natürlich war er am Freitag im Stadion. Die Ehrung hätte beispielsweise auch vor einem Spiel gegen den HC Davos Sinn gemacht. Lugano gewann den ersten Playoff-Final unserer Geschichte im Frühjahr 1986 unter der Führung seines schwedischen Bandengenerals gegen den HCD. Oder vor einer Heimpartie gegen den SC Bern, den grossen Rivalen der «Ära Slettvoll». Der verlorene Final gegen den SCB von 1989 hat unserem Hockey die erste Playoff-Sensation, das erste Playoff-Drama beschert. Und kommerziell hätte es Sinn gemacht, die Ehrung im Rahmen einer Begegnung mit Ajoie durchzuführen und so ein Spiel «aufzupeppen», das nicht einmal 5000 Fans ins Stadion zu locken vermag. Gegen Ambri ist die Arena sowieso mit 6733 Fans ausverkauft.
So wie die Valascia für Ambris ewige Kultur, so steht der Name John Slettvoll für Luganos vergänglichen sportlichen Ruhm. Auch wenn Lugano später mit anderen Trainern weitere Titel geholt hat: So mächtig und dominant, ja über eine längere Zeit sportlich unverwundbar wie in den besten Jahren unter John Slettvoll war Lugano seither nie mehr. Und wird Lugano in einer Hockeywelt, die für immer eine andere ist als in den 1980er- und 1990er-Jahren, nie mehr sein.
Es kann, es darf gar nicht anders sein, als John Slettvoll in einem Derby in die Ruhmeshalle, offiziell in die Geschichte des Klubs eingehen zu lassen. Um dem Tessin zu zeigen: Mag sein, dass die Hockeykultur blau-weiss gefärbt ist. Aber der Ruhm ist unser.
Das haben offenbar auch die Spieler begriffen. Ambri war im Derby von der ersten Sekunde an chancenlos und verlor 0:5. Es ist, ganz nebenbei gesagt, die höchste Derby-Niederlage, seit Ambri die ewige Valascia verlassen hat.
Ambri hat eine einmalige Chance zur Demütigung Luganos verpasst: Ein Sieg ausgerechnet am Abend der Ehrung von John Slettvoll. Es wäre ein Triumph der Hockey-Kultur über vergänglichen sportlichen Ruhm gewesen.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
5,2
09.22
5,2
09.23
5,2
01.24
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte