Auf die Frage, wie er die noch offenen Ausländerpositionen für nächste Saison zu besetzen gedenkt, sagt Luganos Sportchef Hnat Domenichelli: «Das hängt auch von Calvin Thürkauf ab.» Warum das denn? Der Captain hat ja bis 2029 verlängert. Aber die NHL lockt.
Im Frühjahr 2020 wird Pius Suter Liga-Topskorer. Im Herbst des gleichen Jahres verlässt er die ZSC Lions und wechselt in die NHL zu Chicago. Trotz eines Vertrages mit den Zürchern bis 2023. Nun ist mit Calvin Thürkauf der nächste Schweizer auf bestem Wege, Liga-Topskorer zu werden. Womöglich mit noch besseren Werten als Pius Suter. Wer unsere National League dominiert, ist gut genug für die NHL. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Luganos produktivster Spieler nächste Saison in der NHL stürmt. Trotz Vertrag bis 2029 mit Lugano.
Die Planspiele für den Wechsel nach Nordamerika haben schon begonnen. Die Agentur, die ihn betreut, lässt zwar ausrichten, es sei noch viel zu früh. Erläutert dann aber auf Nachfrage die doch recht komplizierte Ausgangslage.
Die Schweiz hat mit der NHL ein Transferabkommen. Jeder Spieler darf bis zum 15. Juni auch dann in die NHL wechseln, wenn er einen gültigen Vertrag mit einem unserer Klubs hat. Dieses Abkommen ist auf die Saison 2022/23 neu ausgehandelt und im April 2022 in Kraft gesetzt worden.
Das bedeutet: Calvin Thürkauf kann bis zum 15. Juni trotz eines Vertrages bis 2029 Lugano verlassen und in die NHL wechseln. «Das ist einerseits ein schönes Problem» sagt Hnat Domenichelli. «Das bedeutet, dass Calvin eine Supersaison hat und dass es uns gut läuft.» Aber es gebe auch eine andere Seite. Es wäre im Falle eines Falles nicht möglich, Calvin Thürkauf auf dem Schweizer Markt zu ersetzen. «Wir müssten dann bei den Ausländern entsprechend disponieren.» Hält inne und mahnt, den Ball bzw. den Puck doch flach zu halten. «Wir wollen uns jetzt auf diese Saison konzentrieren. Die ganze Angelegenheit werden wir nach der Saison diskutieren. Fragen Sie mich also noch einmal im Mai. Warum nicht in Prag während der WM?»
So weit so gut. Der Fall ist – zum Glück für Lugano – ein bisschen kompliziert. Columbus besitzt noch bis zum 1. Juli die Rechte an Calvin Thürkauf. Das bedeutet: Bis zum 1. Juli kann seine Agentur nur mit Columbus über einen Vertrag für die nächste Saison verhandeln. Columbus hat im Draft 2016 die Rechte am Nationalstürmer erworben, aber ihn zwischen 2017 und 2020 meistens im Farmteam schmoren lassen: Bloss Drei Partien in der NHL, aber 154 in der AHL.
Will eine andere NHL-Organisation Calvin Thürkauf verpflichten, dann müssten seine Rechte bei Columbus erworben werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich einer der 31 NHL-Organisationen für die Rechte an Calvin Thürkauf interessiert, ist sehr, sehr gering. Zum aktuellen Zeitpunkt ist eine Verpflichtung eines Schweizers, für den erst noch die Rechte organisiert werden müssen, für die NHL-Bürogeneräle so weit weg wie der Mars.
Etwas anderes wäre es, wenn Calvin Thürkaufs Agentur mit allen 32 NHL-Klubs verhandeln könnte. Das wird ab dem 1. Juli möglich sein. Ab diesem Datum wird Calvin Thürkauf «free agent»: Er kann bei einem beliebigen NHL-Team unterschreiben und es wird keine Kompensation mehr fällig. Das macht ihn vor allem für Teams in einer Neuaufbauphase attraktiv: Er hat die Postur (188 cm/93 kg), das Talent, die Vielseitigkeit und inzwischen auch das Selbstvertrauen für ein neues Abenteuer in Nordamerika. Er ist besser denn je und kann er nächste Pius Suter werden. Er wird zur «Rolex auf dem Transferwühltisch« und würde wohl einen Einjahresvertrag für rund eine Million akzeptieren. Für eine NHL-Organisation ein «Schnäppchen».
Aber eben: Am 1. Juli ist es zu spät, um aus dem Vertrag mit Lugano auszusteigen. Diese Frist läuft ja am 15. Juni ab und ein Ausstieg per 15. Juni ohne NHL-Vertrag geht nicht: Entweder per 15. Juni ein unterschriebener NHL-Vertrag oder keine automatische Freigabe. Die Lösung wäre: Hnat Domenichelli gibt Calvin Thürkauf per 15. Juni eine Freigabe für die NHL. Dann kann seine Agentur stressfrei bis zum 1. Juli abwarten und dann mit allen NHL-Organisationen verhandeln. In einer idealen Hockey-Welt, in der alle einander gernhaben und sich gegenseitig die Wünsche von den Lippen ablesen, wäre eine solche Freigabe kein Problem. In der realen Welt hingegen schon ein wenig.
Die Frage ist also: Wird Luganos Sportchef seinem besten Schweizer Spieler per 15. Juni eine Ausstiegsklausel für die NHL geben und so die Gefahr, dass er ihn verliert, im Quadrat erhöhen? Hnat Domenichelli sagt wohlweislich: «Wie gesagt, fragen Sie mich im Mai…» Eine solche Freigabe dürfte Luganos smarter Sportchef wohl nur im Überschwang der Gefühle während einer Meisterfeier so gegen 04.00 Uhr in den Morgenstunden mündlich geben, wenn Calvin Thürkauf das entscheidende Tor zu Luganos erstem Titelgewinn seit 2006 erzielt hätte. Aber auch nur vielleicht.
So oder so bleibt die NHL für Calvin Thürkauf ein Thema. Und Lugano muss damit rechnen, seinen besten Spieler auf nächste oder übernächste Saison zu verlieren. Trotz Vertrag bis 2029. Die Wahrscheinlichkeit, dass der ehemalige Zuger Junior bereits nächste Saison in der NHL stürmt, mag nicht übertrieben hoch sein. Aber Eishockey ist nicht nur auf dem Eis ein unberechenbares Spiel auf rutschiger Unterlage mit ungewissen und manchmal sensationellen Wendungen. Das internationale Transfergeschäft im Eishockey ist genauso unberechenbar.