Eigentlich müsste der EHC Chur im nationalen Hockey am grossen Rad drehen. 1933 gegründet. Mit Nino Niederreiter sitzt ein berühmter NHL-Profi im Vorstand. Die Stadt hat fast 40'000 Einwohner, ist Hauptstadt eines wahren Hockey-Kantons und Bischofssitz. Eine perfekte Infrastruktur mit zwei Eishallen gleich bei der Autobahnzufahrt.
Aber Chur ist erneut gescheitert. Klar gescheitert. Mit einem Sieg und drei Niederlagen in der ersten Playoffrunde gegen Hockey Huttwil. Gegen ein Team aus einem Städtchen mit knapp 5000 Einwohnern. Die Infrastruktur ist zwar gut, aber latent von der Schliessung bedroht. Das Eis ist schon mal sieben Jahre lang abgetaut worden. Als Reaktion auf die Verweigerung der Lizenz für den Aufstieg in die damalige NLB.
Nach einem sportlich einwandfrei erkämpften Aufstieg. Kurzum: In Huttwil wird Hockey-Romantik gepflegt. Die Mannschaft hat den Zusammenhalt und die Leidenschaft, die für «Desperado-Teams» so typisch sind. Vor einem Jahr ging der Final gegen Basel erst im 5. Spiel verloren. Und jetzt ist im Viertelfinal Chur vom 7. Platz aus gebodigt worden.
Die Romantiker aus Huttwil haben das Team des letzten wahren Romantikers Reto von Arx aus den Playoffs gekippt. Reto von Arx gehört zu den grössten Spielern unserer Hockeygeschichte. Als Leitwolf hat er den HC Davos zu sechs Titeln geführt und sein letzter Auftritt auf der grossen Bühne war dieser grandiosen Karriere würdig: In seinem letzten Spiel erzielt er im Zürcher Hallenstadion in der 50. Minute das Siegestor zum 1:0 (Schlussresultat 3:0), das dem HCD 2015 den bisher letzten Titel einbringt.
Er könnte heute noch im Rampenlicht stehen und am grossen Rad drehen. Als Sportchef. Als Spielerberater. Als TV-Besserwisser. Als Verwaltungsrat. Oder in einem Verbands-Polstersessel. Aber das ist nicht seine Art. Er ist der letzte echte, wahre Romantiker unseres Hockeys. Am 28. September 2021 hat er zusammen mit seinem Bruder Jan das Traineramt beim EHC Chur übernommen. Das war «Big News» und bescherte ihm einen kurzen Rummel um seine Person. Inzwischen ist in Chur Ruhe eingekehrt und das nationale Publikum hat Reto von Arx weitgehend vergessen. Erst recht, seit die Bündner völlig überraschend das Gesuch um den Aufstieg in die Swiss League zurückgezogen haben.
Alles war aufgegleist. Die Rapperswil-Jona Lakers und die SCL Tigers wären als Partner eingestiegen und hätten Chur in der Swiss League als Farmteam alimentiert. Aber all das kümmert Reto von Arx nicht wirklich. Wichtig für ihn: Er kann zusammen mit seinem Bruder die Leidenschaft Hockey leben. Die Kameraderie in der Kabine. Davos, den Ort, wo es ihm gefällt, braucht er auch nicht zu verlassen.
Reto von Arx ist ein guter Trainer. Er hat seine Arbeit zusammen mit seinem Bruder am 28. September 2021 aufgenommen. Für die Playoffs reichte es im letzten Frühjahr noch nicht (10. Rang Qualifikation). Aber nun hat er die junge Mannschaft (Durchschnittsalter knapp 23 Jahre) auf den 2. Platz geführt.
Das Scheitern in den Playoffs gegen den 7. tut weh. Noch eine halbe Stunde nach der finalen 1:4-Niederlage in Huttwil bleibt die Kabinentüre geschlossen. Niemand tobt. Niemand flucht. Es ist eine stille Enttäuschung.
Dann erst analysiert Reto von Arx das Scheitern. Sein Charisma wirkt noch immer. Einer, der mit sich und dem Eishockey im Reinen ist. Seine Kritik ist väterlich. Seine Analyse wohl fundiert. Wenn er sagt: «Die Spieler können stolz auf ihre Leistung sein», dann meint er es auch so. Er lobt die Leidenschaft seiner Jungs, die alle einer geregelten Arbeit nachgehen. Einige oft noch am Spieltag. Er spricht von der fehlenden Playoff-Erfahrung. Von Details, die die Differenz machten. Er respektiert die Stärken des Gegners. Kein böses Wort. Ja, er wolle zusammen mit seinem Bruder auch nächste Saison mit dem EHC Chur arbeiten. «Aber jetzt lass uns erst einmal enttäuscht sein, dann kommt die Zeit zum Reden.»
Reto von Arx ist eigentlich ein guter Trainer. Aber ist er auch ein grosser Trainer? Er ist es noch nicht. Ist er als Romantiker zu verständnisvoll? Nach einer so grossen Spielerkarriere zu gelassen? Zu ruhig an der Bande, in der Kabine, im Training? Im Vergleich zu Arno Del Curto ist das so.
Was für eine Ironie der Geschichte: Arno Del Curto, gut 20 Jahre lang Trainer und Freund von Reto von Arx, lebt heute in Lotzwil. Nur eine gute Autoviertelstunde von Huttwil entfernt. Aber Arno Del Curto war nicht zu diesem Spiel nach Huttwil gekommen. Diese Hockey-Männerfreundschaft, die eine der grössten unserer Hockeygeschichte war, ist zerbrochen.
Arno Del Curto wird im Mai nach Finnland fliegen, um seinen Freund Roger Bader, Österreichs Nationaltrainer, bei der WM zu unterstützen. Aber für Reto von Arx ist er nicht nach Huttwil gefahren. Weder am Dienstag zum zweiten noch am Samstag zum vierten Playoffspiel. Dabei fehlt Reto von Arx wahrscheinlich nur eine Prise Temperament, eine Prise Arno Del Curto, um ein grosser Trainer zu sein. Ach, wäre das ein Spektakel gewesen, wenn Arno Del Curto wenigstens für die Spiele in Huttwil angereist wäre, um Reto von Arx an der Bande zu unterstützen. So wie er das für Roger Bader im Dienste Österreichs sogar im fernen Ausland tut.
Es hat schon einmal einen ganz grossen Spieler gegeben, der kein grosser Trainer geworden ist. Wayne Gretzky hat von 2005 bis 2009 in Arizona (Phoenix Coyotes) als Klubbesitzer und Trainer wenig bewirkt. Er war, wenn er nach dem Spiel Auskunft gab, auf eine ganz ähnliche Art und Weise ruhig und gelassen wie Reto von Arx. Und mit seinem Traum, in der Wüste von Arizona Hockey populär zu machen, ein ähnlicher Romantiker wie Reto von Arx bei seinem Versuch, mit Chur den HC Davos oder auch nur den EHC Arosa in den Schatten zu stellen.
So wie das Hockey auch mit Wayne Gretzky Arizona nicht zu erobern vermochte, so wird Chur mit Reto von Arx nicht ins Profihockey zurückkehren. Aber vielleicht ist es gut, so wie es ist: Gelebte Hockey-Romantik unter Reto von Arx in der höchsten Amateurliga bekommt Chur besser als die einstige Schuldenwirtschaft. Sie hatte 2002 zu einem Zwangsabstieg aus der damaligen NLB in die 1. Liga und 2008 zu einem freiwilligen Abstieg aus der NLB in die 1. Liga plus Konkurs und einer Relegation in die 2. Liga geführt. Immerhin ist Chur mit 890 Fans pro Spiel der Publikumskrösus der höchsten Amateurliga.
Und doch: Wie würde Churs Trainer beurteilt, wenn er Fritz Meier und nicht Reto von Arx hiesse? Der Respekt gebietet es, nicht einmal an eine solche Frage zu denken. Geschweige denn sie zu stellen.