«Ich fass es nicht!», stöhnt Uwe Seeler. Die HSV-Legende sitzt in der Ehrenloge des Volksparkstadion der AOL Arena HSH Nordbank Arena Imtech Arena und schiebt sich eine weitere Garnele in den Mund. Seine Hamburger Jungs haben im Abstiegskampf ein kapitales Spiel verbockt: 1:2 gegen den SC Freiburg. Damit ist das Wochenende so richtig lanciert. Und die Schweizer spielen eine Hauptrolle: Freiburgs Torwart Roman Bürki bringt die Gegner mit seinen Paraden zum Verzweifeln – und Admir Mehmedi verwertet einen Elfmeter zum Siegtreffer, den Johan Djourou verschuldet hat.
Hannover 96 zaubert Oliver Kahn aus dem Hut. Vor dem Heimspiel gegen Werder Bremen stellt ihn Trainer Michael Frontzeck als Motivator vor: «Uns hat zuletzt die Aggressivität gefehlt.» Eine bezaubernde «Sky»-Reporterin meldet, sie habe aus Hannovers Garderobe exakt 8:42 Minuten lang ein lautes «Weiter, immer weiter!» vernommen. Doch die Massnahme verfehlt ihre Wirkung: Bremen fegt 96 mit 3:0 weg.
Keine Verschnaufpause. Kaum ist in den anderen Stadien Schluss, beginnt in Stuttgart das Spiel der letzten Chance für den VfB. Martin Harnik schiesst gegen Mainz das frühe 1:0, aber mehr will den Stuttgartern einfach nicht gelingen. VfB-Ehrenpräsident Gerhard Mayer-Vorfelder rutscht unruhig auf seinem Sitz hin und her. «Gentner–Harnik–Ginczek, das ist doch praktisch ein magisches Dreieck!», schiesst es ihm durch den Kopf, als Serey Dié schon wieder einen Ball verstolpert, die Mainzer kontern können, aber bloss die Latte treffen.
Mit mehr Glück als Verstand rettet der VfB die knappe Führung über die Zeit – der Klassenerhalt ist weiter möglich. Und weil am Sonntag Paderborn gegen Wolfsburg keine Chance hat (1:5), bleibt es am Tabellenende ultraspannend.
Ganz unten ist Hannover. Oliver Kahn ist schon nicht mehr dabei, «das Team muss jetzt ganz einfach zurück zu sich selbst finden», quasselt Michael Frontzeck im Bemühen, einen dieser erfolgreichen Jungtrainer zu imitieren. Es nimmt ihm niemand ab.
Im Schwabenland und in Hamburg bereiten sich die Krankenhäuser vor. «Sämtliche Herzspezialisten wurden in Alarmbereitschaft versetzt», verkündet ein Sprecher des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. VfB gegen HSV, sechs Buchstaben, zwei Bundesliga-Saurier.
Ganz klar: Das Herz der Liga schlägt heute im Südwesten, nicht bloss in Stuttgart. Im 190 Kilometer entfernten Freiburg spielt der SC gegen Bayern München. Nach dem Out im Champions-League-Halbfinal gegen Barcelona ist das Starensemble noch müde. «Zwei Tage und zwei Nächte haben wir uns den Frust von der Seele gesoffen», gesteht Thomas Müller freimütig. Mit Augenringen so dunkel wie die Allianz Arena bei einem Stromausfall treten die Bayern in Freiburg auf den Rasen.
Aufsteiger Paderborn kriegt seit Wochen kaum einen Fuss vor den anderen. Die im Herbst gesammelten Nüsschen reichen wohl nicht, dem Eichhörnchen aus Paderborn droht der Hungertod. Auf Schalke gibt's die nächste Klatsche, ein 0:4.
In Stuttgart beginnt das Spiel gut für die Platzherren. Und was ist das für eine Geschichte! Denn das 1:0 schiesst Mohammed Abdellaoue. Der Norweger verpasste wegen einer Verletzung die gesamte Saison, hat keine einzige Minute gespielt. Nun stellt ihn Huub Stevens der Verzweiflung nahe gleich zu Beginn auf. Kalt wie eine Hundeschnauze lässt er HSV-Goalie René Adler mit einem Übersteiger aussteigen. Sofort twittert Landsmann Jan-Age Fjörtoft: «Den Trick hat er von mir!»
Auch in Freiburg jubeln sie. Gegen müde Münchner, die auf 14 Verletzte verzichten müssen, schlägt wieder Admir Mehmedi zu. Er zeigte oft enttäuschende Leistungen, doch nun da es zählt, scheint er bereit zu sein. Mehmedi lobbt den Ball über Bayerns Ersatz-Ersatzkeeper Tom Starke und nach 32 Minuten steht es 1:0.
Hannover-Trainer Frontzeck hat das Buch von Ewig-Optimist Ralph Krueger gelesen und hat mit seinem Team ein altes Bergwerk besucht: «Wir wollen aus dem Keller!», murmelt er pausenlos vor sich hin. Doch gegen Augsburg ist das in Halbzeit eins ein ganz lauer Kick. «Wer so spielt, der verdient den Abstieg», hört Horst-Uwe in der Radio-Konferenzschaltung, während er in Oer-Erkenschwick sein Auto wäscht. Horst-Uwe greift zum Ledertuch und poliert die Motorhaube.
Doch nach der Pause wird es dramatisch. Hannover geht zweimal in Führung, zweimal kann Augsburg ausgleichen. Präsident Martin Kind hält es vor Spannung nicht mehr aus. Er verzieht sich in der Stadiongarage in sein Auto, schaltet dann doch das Radio ein, kann aber kaum hinhören. Doch bei diesem 2:2 bleibt es.
In Freiburg feiern die Breisgauer derweil. Verteidiger Christian Günter nickt den Ball nach einem Freistoss ins Tor. 2:0, die Bayern sind geschlagen, Freiburg der Rettung nahe. Beinahe kippt Trainerlegende Volker Finke zuhause vor dem TV aus seinen Heilandsandalen. «Das ist ja wie zu Uwe Wassmers Zeiten», denkt er sich und setzt sich wieder in seinen Strandkorb.
Und in Stuttgart? Dort entwickelt sich eine Partie, die nur noch dem Namen nach ein Spiel ist. Sie artet in eine veritable Schlacht aus, wortwörtlich fressen die Spieler Gras. «Is' ja gesund hier, im grünen Schwabenland!», ruft der junge Radioreporter im Stile eines Werner Hansch ins Mikrofon. Valon Behrami ist wie eh und je stark rotgefährdet, Rafael van der Vaart wird von den Fans für einen Zuckerpass gelobt und im nächsten Moment ausgepfiffen. Dem Betrachter wird gewahr: So sieht es also aus, das vielzitierte Spiel zwischen Not und Elend.
Das Spiel ist schon fast vorbei, als der HSV ein letztes Mal gefährlich vor das VfB-Tor gelangt. Eher verzweifelt denn überzeugt zieht Lewis Holtby aus 24,3 Metern ab («Sky» weiss es ganz genau und misst eine Geschwindigkeit von bloss 52,748 km/h). Torhüter Sven Ulreich lässt den Ball, der just vor ihm fies aufsetzt, unter seinem Bauch ins Tor passieren. Dann ist Schluss, 1:1. Zu wenig zum sterben, zu viel um zu leben?
Freiburg hat sich also wieder einmal gerettet. Noch vier Teams kommen für die beiden Abstiegsplätze und für den Gang in die Relegation in Frage. Jedes Team kann den direkten Abstieg noch aus eigener Kraft verhindern. «Wenn bei der Mehrzahl der Mannschaften Linksfüsser auf rechts spielten, war dies in der Bundesliga-Geschichte noch nie der Fall!», berichtet «Sky», nachdem vier arme Studenten nächtelang sinnlose Statistiken wälzen mussten.
In diesen drei Partien geht es um Alles oder Nichts, um Fressen oder Gefressen werden, um Sieg oder Sarg:
Hamburger SV – Schalke 04
Hannover 96 – SC Freiburg
SC Paderborn – VfB Stuttgart
Der ewige Bundesligist HSV nicht mehr in der ersten Liga? Selbst nach all diesen schlechten Jahren will sich das immer noch kaum jemand in Hamburg vorstellen. Eine Niederlage darf man sich nicht leisten, da sonst Paderborn oder Stuttgart in jedem Fall vorbeiziehen werden.
Die Fans der leidgeprüften Hanseaten stehen wie eine Eins hinter ihrem Team. Bruno Labbadia stellt es die Nackenhaare auf: So hatte er sich das ausgemalt, als er in der Not das Traineramt antrat. Aber sein Team findet den Tritt ins Spiel nur schwer. Behrami versucht, seine Kollegen wach zu rütteln, sieht Gelb für ein überhartes Einsteigen im gegnerischen Strafraum. Noch nützt es nichts, noch steht es in Hamburg 0:0.
Auch in Hannover passiert lange nichts. Doch kurz vor der Pause überschlagen sich die Ereignisse. Freiburg geht in Führung, Rahn Riether drückt aus dem Hinterhalt einfach mal ab und trifft. Frustration bei 96? Mitnichten! Postwendend gelingt Captain Lars Stindl der Ausgleich zum 1:1. Edelfan Gerhard Schröder hüpft auf der Tribüne auf und ab, als ob er Angela Merkel nochmals als Kanzler ablösen würde.
Tore würden die Fans auch in Paderborn gerne sehen. Aber Stuttgarts Harnik schiesst vorbei, schiesst drüber, schiesst Paderborns Torwart Lukas Kruse an. Der VfB ist überlegen, aber die Kugel will einfach nicht rein. «Geht ganz einfach, ist im Kopf», macht der extra für dieses Spiel eingeflogene Giovane Elber seinen Möchtegern-Nachfolgern in der Kabine Mut.
Weiterhin kann jedes einzelne Tor über Tränen und Triumphe entscheiden. Horst-Uwe in Oer-Erkenschwick ist wieder dabei, hört sich während der Autopflege die Radio-Konferenzschaltung an. Alle seine Freunde sind Dortmund- oder Schalke-Fan, aber weil dem Horst-Uwe sein Oppa aus Hannover kommt, steht er zu 96. Horst-Uwe leidet: Auch nach 70 Minuten steht es in Niedersachsen 1:1.
Nichts Neues auch in Paderborn: Der Gastgeber wankt wie ein angeschlagener Boxer, taumelt in den Seilen, fällt aber nicht. Jetzt vielleicht: Harnik wird steil geschickt, läuft, schiesst … und versemmelt die nächste dicke Möglichkeit. Elber schlägt sich an der Linie die rechte Hand an die Stirn und verdreht die Augen.
Und in Hamburg? Steht's ebenfalls weiterhin 0:0. «Das reicht ja, oder?», fragt Uwe Seeler auf der Tribüne. In der Aufregung hat er sein Smartphone zuhause liegen gelassen und stattdessen den Rasierapparat eingepackt. Bei jedem Ballkontakt Djourous rutscht Seeler das HSV-Herz in die Hose.
«Toooooooooooooooor in Paderborn!!!», brüllt es aus dem Radio von Hannover-Fan Horst-Uwe in Oer-Erkenschwick. Schnell legt er den Lappen weg, feuchte Hände hat er trotzdem. Ein 0:0 wäre für ihn das beste Resultat gewesen, doch nun hört er, wie Antonio Rüdiger den VfB Stuttgart in Führung bringt. Zwölf Minuten sind nach seinem Kopfball noch zu spielen – zwölf Minuten noch bis zum Klassenerhalt? Stand jetzt bleiben die Schwaben oben.
Aber es bleibt nicht dabei. Denn als ob die Spieler in Hamburg einen sechsten Sinn hätten, schalten sie nun einen Gang nach oben. Heiko Westermann hält nichts mehr hinten. Der Routinier schnappt sich an der Mittellinie den Ball, dribbelt sich an drei Schalkern vorbei und wuchtet die Kugel aus 22 Metern ins Lattenkreuz!
Ein schöner Tagtraum, doch als Uwe Seeler nach diesem kurzen Nickerchen wieder zu sich kommt, ist der HSV tatsächlich am Drücker. Marcell Jansen spielt am Flügel einen Doppelpass mit Marcelo Diaz – das ist ja fast Barcelona hier! Jansen flankt nach innen, dort gibt Holtby den Ball sofort weiter zu Rafael van der Vaart, der schiesst – UND TRIFFT! Ausgerechnet dieser Van der Vaart, man glaubt es nicht, man fasst es nicht. Ganz Hamburg ein Tollhaus. Nur noch acht Minuten fehlen und der Dinosaurier hat den nächsten Angriff der Meteoriten überlebt.
Der Schwarze Peter ist nun in den Händen von Hannover 96. «Schwarzer Peter», spöttelt zuhause Peter Neururer, «hätten sie nur mal einen echten Peter als Retter geholt, dann wären sie jetzt nicht da unten.» Gegen bescheidene Freiburger, die sich nicht gross wehren, bringt Hannover wenig bis gar nichts mehr zustande. Als der Schiedsrichter abpfeift, hört man so viel wie eine 96-Jährige, deren Hörgerät einen leeren Akku hat.
Hannover ist abgestiegen, das 1:1 zuhause gegen Freiburg war zu wenig. Mit nach unten muss Paderborn, während in Stuttgart durchgeatmet wird: «Bis zur Relegation üben wir Torschuss, Torschuss und nochmals Torschuss!», gibt Giovane Elber die Parole durch. Und an der Hamburger Reeperbahn wird die Nacht zum Tage gemacht. Als es wieder hell wird, steht ein Bruno-Labbadia-Denkmal aus Fischbrötchen am Hafen.
Damit hätte vor einem Monat nicht einmal Uwe Seeler gerechnet. «Und immer, immer wieder geht die Sonne auf», säuselt er einen Udo-Jürgens-Klassiker vor sich hin, als er nach Hause schlendert.