Giorgio Chiellini ist ganz sicher vorbereitet. Denn Gianluigi Donnarumma könnte auch heute wieder ganz nahe am Straftatbestand der Körperverletzung wandeln, kurz vor Anpfiff des Endspiels dieser Europameisterschaft 2021 gegen England.
Schon wenige Tage zuvor nämlich, kurz vor Anpfiff des EM-Halbfinals gegen Spanien, da baute sich Italiens so gar nicht 22-jährig aussehender Torwart direkt neben seinem 15 Jahre älteren Teamkollegen auf, als die Squadra Azzurra gewohnt inbrünstig ihre Nationalhymne schmetterte. Arm in Arm standen sie da – und Donnarumma grub seine mächtige Pranke immer wieder derart druckvoll in den Trapezmuskel seines Nebenmanns, als habe er das Ergebnis eines Massage-Workshops am lebenden Objekt vorführen wollen.
Aber Giorgio Chiellini wäre nicht Giorgio Chiellini, wenn er dem vulkanischen Nervengriff seines Schlussmanns nicht wie immer widerstehen könnte. Mehr noch: Der Giorgio Chiellini dieser EM wird darüber lächeln. Lachen. «Ich geniesse hier jeden Moment, noch mehr als vorher», erklärte Chiellini kurz vor dem Endspiel. Es ist nach menschlichem Ermessen wohl sein letzter grosser Auftritt mit den Blauen. Und er könnte seine grosse Laufbahn heute mit dem EM-Titel krönen.
«Gewinnen ist mit 37 genauso schön wie mit 21», sagte er dieser Tage in einem Interview mit «uefa.com». «Vielleicht geniesst man es mit 37 mehr, weil man weiss, wie schwierig das ist und was dahintersteckt.»
Doch dieser alte Herr des Turniers, er hat seinen jungen und ungleich glamouröseren Kollegen bei dieser Endrunde nicht nur die Wertschätzung des Erfolgs voraus. Es gibt gute Argumente, die für ihn als Spieler des Turniers sprechen. Frankreichs Kylian Mbappé? Blieb blass. Englands Harry Kane? Zwar schon mit vier Toren, in der Summe der Vorstellungen aber noch nicht wirklich überragend. Belgiens Kevin de Bruyne? Mit Belgien an Italien gescheitert, am Ende entkräftet.
Chiellini aber spielt in jeder Partie gross auf – auf seine Weise: Italiens Verteidigerdenkmal grätscht, dass es Dieter Eilts die Tränen in die Augen treiben würde, köpft alles weg, was nach Flanke aussieht, läuft Bälle ab, wirft sich mit fast besorgniserregender Missachtung der eigenen Gesundheit in jeden Zweikampf – und hat einen Riesenspass dabei. Selbst eine Muskelverletzung, durch die er für das Gruppenspiel gegen Wales und das Achtelfinale gegen Österreich ausfiel, konnte «Grande Giorgio» nicht komplett stoppen. Und macht so auch den Zuschauern eine grosse Freude.
Der gebürtige Pisaner schafft es, mit seinem ganze drei Lenze jüngeren Abwehr-Lebenspartner Leonardo Bonucci, seit gefühlt 73 Jahren im Klub bei Juventus und in der Nationalelf, den Gegnern das Toreschiessen weitestgehend zu verunmöglichen.
Spricht er über seine Arbeit auf dem Feld, klingt es noch immer nach grosser Liebe: «Es macht mich glücklich, Zweikämpfe zu gewinnen», sagte Chiellini noch im Frühjahr dem französischen Magazin S«O FOOT». «Wenn ich einen gefährlichen Schuss blocken oder ein Tor verhindern kann, versetzt mir das einen Adrenalinschub.» Und auch bei dieser EM zelebriert Chiellini sein persönliches Verständnis von Glück. Ein Vergnügen, das so eigentlich nur ein leidenschaftlicher Verteidiger empfinden kann – und das doch ansteckt:
Giorgio Chiellini's reaction to taking this De Bruyne thunderbolt straight in the face. 🤣🤣
— SportsBetting.com (@WeSportsBetting) July 2, 2021
The man's a lunatic. #ITA #BEL #EURO2020 pic.twitter.com/GAiIV6wEVC
«Es wurde viel mehr erzählt, als tatsächlich passierte», erklärte Chiellini danach. «Wir mussten die Seite wählen, auf der die Elfmeter geschossen werden sollen, und der Schiedsrichter sagte: ‹Rot für die eine Seite, Blau für die andere.› Alba habe gedacht, «dass es seine Seite bedeutete, aber ich wies ihn belustigt darauf hin, dass dies nicht der Fall war.»
Chiellini reisst seine Mitspieler in Blau – und manchmal eben auch seine Gegenspieler – mit, er geht voran mit seiner Erfahrung aus 111 Länderspielen seit 2004 und 535 Pflichtspielen für Juve seit 2005. «Grande Giorgio» ist nicht nur ein Spitzname. Was er seinen Mannschaften bedeutet, fasste Federico Bernadeschi schon 2018 zusammen. Ob denn jetzt alle im Juve-Training mit Cristiano Ronaldo zusammenspielen wollten, fragte «Tuttosport» den Angreifer etwas schnappatmig zum damaligen Neuzugang. Bernadeschis Antwort: «Eigentlich ist es besser, Chiellini im Team zu haben.»
Verteidigen «sei eine ganz andere Freude, als Tore zu schieen, das kann man gar nicht vergleichen», führte Chiellini in «SO FOOT» aus. Und weiter: «Mein Treffer gegen Barcelona im Champions-League-Viertelfinale (2017, Anm. d. Red.) hat mir viel weniger Freude bereitet als die Szene gegen Tottenham (2018, Anm. d. Red.), als ich in der 89. Minute verhindern konnte, dass Harry Kane ein Tor schiesst.»
Genau das kann Giorgio Chiellini heute gegen Englands Stürmer wieder tun.