Sport
Fussball

Penalty-Entscheidung – die letzte wahre Gerechtigkeit im Teamsport

England players celebrate in front of Swiss players after Trent Alexander-Arnold scored the winning goal during the penalty shootout of a quarterfinal match between England and Switzerland at the Euro ...
England gewinnt gegen die Schweiz im Penaltyschiessen.Bild: keystone

Penalty-Entscheidung – die letzte wahre Gerechtigkeit im Teamsport

Lotterie? Unsinn! Die Penalty-Entscheidung beschert uns die ehrlichsten, dramatischsten und besten Moment des Teamsportes. Weil endlich einmal alles auf den Punkt gebracht wird und weil es keine Ausreden gibt.
08.07.2024, 06:5008.07.2024, 13:41
Mehr «Sport»

Ja, die Niederlage gegen die Schweiz schmerze. Doch mein italienischer Gastgeber korrigiert sogleich: «Aber Baggios Fehlschuss! Viel, viel schlimmer.»

Roberto Baggio hat im WM-Final von 1994 gegen Brasilien – zum ersten Mal wird der Titel nach einem 0:0 nach Verlängerung in der Penalty-Entscheidung vergeben – den letzten, entscheidenden Penalty hoch übers Tor «in den Himmel geschossen.» Dabei sagten die Fans von ihm, er spiele besser Fussball als die Heiligen im Paradies.

Brazilian striker Bebeto leaps into the arms of goalkeeper Claudio Taffarel (L) as Italy's Roberto Baggio (C) stares at the ground after missing the penalty kick which cost his team the World Cup ...
Die Brasilianer Jubeln, Baggio trauert – WM 1994. Bild: X00574

Es gibt drei Varianten der Entscheidung bei einem Remis nach der regulären Spielzeit. Eine Verlängerung, durch Losentscheid oder eben durch Penaltys, wenn die Verlängerung zeitlich begrenzt wird.

Die Beste Variante? Ganz klar: nach Penaltys. Die ganze Dramatik wird im besten Wortsinn auf den Punkt gebracht. So wie es der ZDR-Reporter am Samstag beim letzten Versuch der Engländer in einem einzigen Satz wunderbar formuliert hat: «Ist er drin, ist die Schweiz draussen».

Glanz und Elend der Penalty-Entscheidung ist uns wohl bekannt. Im Final der Eishockey-WM von 2018 haben die Schweizer den WM-Titel gegen Schweden nach Penaltys verloren. 2024 rücken sie nach einem Sieg in der Penalty-Ausmarchung gegen Weltmeister Kanada in den Final vor. Im EM-Achtelfinal 2021 eliminierten die Schweizer Fussball-Weltmeister Frankreich vom Punkt aus. Sie scheitern sodann im Viertelfinal nach Penaltys gegen Spanien und nun am Samstag gegen England. Alles eine Lotterie? Nein, ganz im Gegenteil. Die fairste, gerechteste, transparenteste, dramatischste – kurzum die beste – Form der Entscheidung.

Switzerland's Manuel Akanji, center, Ardon Jashari, left, and Ruben Vargas, right, react after losing the penalty shoot-out of the quarter final match between England and Switzerland at the Euro  ...
30 Jahre nach Baggio war es Akanji, dem die Nerven versagten.Bild: keystone

Der Teamsport bietet schier unendliche Möglichkeiten, sich aus der Verantwortung zu schleichen, sich hinter den Mitspielern zu «verstecken» oder gar den Teamkollegen die Schuld in die Schuhe zu schieben: Dem haltbaren Treffer sei eben einer oder mehrere Verteidigungsfehler vorausgegangen. Notfalls kann der Königsweg aller Ausreden beschritten werden: Schuld ist der Schiedsrichter. Oder war am Ende Bestechung im Spiel?

Umgekehrt bietet der Teamsport auch reichlich Gelegenheit, sich mit fremden Federn zu schmücken. Von der Arbeit der Mitspieler zu profitieren. Sich im Lichte des Ruhmes zu sonnen, ohne viel zu diesem Ruhm beigetragen zu haben.

Doch all das ist weggewischt, alles kehrt zu den wahren Werten des Sportes und zum Fairplay zurück, wenn das Spiel auf den Punkt gebracht wird. Bei der Penalty-Entscheidung ist alles für alle offen, klar und wahr. Es gibt einfach keine Ausreden. Nicht für die Trainer. Nicht für die Schützen. Nicht für die Goalies.

Switzerland's goalkeeper Leonardo Genoni, right, makes a save against Canada's Dylan Cozens during penalty shootout of the semifinal match between Canada and Switzerland at the Ice Hockey Wo ...
Auch im Eishockey setzt man auf Penalty-Entscheidungen.Bild: keystone

Nun entscheidet Talent in seiner ganzen Ausprägung: Technik, Reaktionsschnelligkeit, Nervenstärke. All das, was einen guten Spieler eben ausmacht.

Kein Gegner stört die Aktion. Kein Hineingrätschen, kein Halten, kein Rempeln auch kein verstecktes Handspiel. Weder der Goalie noch der Schütze werden behindert oder gerempelt, der Schuss wird nicht abgelenkt, ein Eigentor ist nicht möglich und der Schiedsrichter pfeift nicht zu früh oder zu spät ab. Es gibt kein Zeitschinden, kein Hadern über zu wenig oder zu viel Nachspielzeit. Und es hilft wohl auch nicht, den Schiedsrichter zu bestechen. Es gibt im Fussball für den Goalie nicht einmal die Ausrede, er sei von der Sonne geblendet worden. Alle Penaltys werden auf das gleiche Tor gekickt.

Die Penalty-Entscheidung ist die wahre, jungfräulich reine Aktion, knitterfrei wie chinesische Seide. Jeder ganz auf sich allein gestellt. In diesem Augenblick der einsamste Mensch der (Sport)welt. Die ultimative Bewährungsprobe. Der Teamsport zerfällt in offene, für alle sichtbare Duelle. Und doch sind all diese Duelle im Dienst des Teams. Fünf Versuche sind perfekt: Genug, um einen Fehlschuss zu korrigieren und den Zufall zu eliminieren und eine Lotterie zu vermeiden.

Switzerland's head coach Murat Yakin, team director Pierluigi Tami and Dominique Blanc, president of the Swiss football federation, front to back, attend a press conference at the "Stadion a ...
Murat Yakin sprach von einer «Lotterie». Bild: keystone

Auch für den Trainer (Coach) ist es der Offenbarungseid: Nun zeigt sich, ob er seine Spieler tatsächlich kennt. Ihre Schwäche, ihre Stärken, ihre augenblickliche Verfassung. Nur dann kann er den Richtigen für die wichtigste Tat einsetzen.

Wer die besseren Schützen und den besseren Goalie hat, gewinnt. Ohne «Wenn» und «Aber». So einfach, so klar, so wahr und so fair ist das. Die letzte wahre Gerechtigkeit im Teamsport. Und gibt es für das Publikum bessere Unterhaltung, intensivere, dramatischere Momente? Nein. Die ganze Dramatik und Spannung werden zusammengefasst, ja zusammengedrängt, zusammengeballt, zusammengepresst in eine einzige Aktion. In Sekunden werden strahlende oder tragische Helden geboren. Mein Gastgeber kennt nach 30 Jahren noch immer den Namen des tragischen Helden des WM-Finals von 1994.

Aber bei der Suche nach Schuldigen für das schmähliche Scheitern nach regulärer Spielzeit gegen die Schweiz vor ein paar Tagen fällt ihm kein Name ein.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
So wird die Nati nach dem EM-Out in Zürich empfangen
1 / 10
So wird die Nati nach dem EM-Out in Zürich empfangen
Grosses Interesse: Mehr als 1000 Fans warten in Zürich auf die Nati.
quelle: keystone / ennio leanza
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Die Fans feiern Xherdan Shaqiri
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
46 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Ich-möchte-verstehen
08.07.2024 09:33registriert April 2022
Also die Konsequenz dieses Artikels ist: statt 90 oder 120 Minuten Fussball spielen, könnte man auch nur Penalty-Schiessen machen? ...das kann nicht der Sinn sein.
505
Melden
Zum Kommentar
avatar
mikel
08.07.2024 09:26registriert Februar 2014
So was an den Haaren herbeigezogen hab ich schon lange nicht mehr gelesen. Ich weiss, selber schuld, hätte ich auch nicht lesen müssen.

Penaltyschiessen ist eine Möglichkeit, bei Unentschieden ein Spiel zu entscheiden. Bestimmt besser als auslosen. Aber nicht mehr und nicht weniger.
435
Melden
Zum Kommentar
avatar
Paia87
08.07.2024 08:30registriert Februar 2014
Ich bin da klar anderer Meinung als Klaus.
Penalty ist mMn die sportlich unfairste Entscheidung im Teamsport.
Es ist einzig ein Vergleich der mentalen Stärke, nicht des Könnens. Im Teamsport entscheiden so viele Faktoren über Sieg oder Niederlage, das Penaltyschiessen übergeht all diese Faktoren und endet in einem Duell, welches für den Teamsport eigentlich untypisch ist.
Eine andere Lösungsform habe ich auch keine, und ich selbst liebe ja auch die Spannung in einem Penaltyschiessen, aber für den Teamsport ist es kein fairer Vergleich. Oder wie seht ihr das?
3611
Melden
Zum Kommentar
46
    Traumtor-Festival in Bern – YB überfährt Aufsteiger Sion gleich mit 5:1
    Die Young Boys feiern mit einem 5:1 gegen Sion den zweiten Kantersieg in drei Tagen. Ein Traumtor von Rayan Raveloson ebnet den Bernern nach 62 Sekunden den Weg. Chris Bedia und Christian Fassnacht treffen ebenfalls wieder und bringen YB zurück ins Meisterrennen.

    Erneut stachen die neuen Trümpfe der Young Boys. Raveloson erzielte mit einem Kunstschuss das sehr frühe 1:0, Chris Bedia das 2:0 und das 4:1, Christian Fassnacht das 5:1. Mit dem zweiten Kantersieg in drei Tagen setzte der Meister seine Aufholjagd unter Giorgio Contini eindrücklich fort. Die Chancen stehen nun gut, dass YB nach der 23. Runde am Sonntag zum ersten Mal in dieser Saison unter den Top 6 stehen wird. Und allzu gross ist der Rückstand zur Spitze nicht.

    Zur Story