Ja, die Niederlage gegen die Schweiz schmerze. Doch mein italienischer Gastgeber korrigiert sogleich: «Aber Baggios Fehlschuss! Viel, viel schlimmer.»
Roberto Baggio hat im WM-Final von 1994 gegen Brasilien – zum ersten Mal wird der Titel nach einem 0:0 nach Verlängerung in der Penalty-Entscheidung vergeben – den letzten, entscheidenden Penalty hoch übers Tor «in den Himmel geschossen.» Dabei sagten die Fans von ihm, er spiele besser Fussball als die Heiligen im Paradies.
Es gibt drei Varianten der Entscheidung bei einem Remis nach der regulären Spielzeit. Eine Verlängerung, durch Losentscheid oder eben durch Penaltys, wenn die Verlängerung zeitlich begrenzt wird.
Die Beste Variante? Ganz klar: nach Penaltys. Die ganze Dramatik wird im besten Wortsinn auf den Punkt gebracht. So wie es der ZDR-Reporter am Samstag beim letzten Versuch der Engländer in einem einzigen Satz wunderbar formuliert hat: «Ist er drin, ist die Schweiz draussen».
Glanz und Elend der Penalty-Entscheidung ist uns wohl bekannt. Im Final der Eishockey-WM von 2018 haben die Schweizer den WM-Titel gegen Schweden nach Penaltys verloren. 2024 rücken sie nach einem Sieg in der Penalty-Ausmarchung gegen Weltmeister Kanada in den Final vor. Im EM-Achtelfinal 2021 eliminierten die Schweizer Fussball-Weltmeister Frankreich vom Punkt aus. Sie scheitern sodann im Viertelfinal nach Penaltys gegen Spanien und nun am Samstag gegen England. Alles eine Lotterie? Nein, ganz im Gegenteil. Die fairste, gerechteste, transparenteste, dramatischste – kurzum die beste – Form der Entscheidung.
Der Teamsport bietet schier unendliche Möglichkeiten, sich aus der Verantwortung zu schleichen, sich hinter den Mitspielern zu «verstecken» oder gar den Teamkollegen die Schuld in die Schuhe zu schieben: Dem haltbaren Treffer sei eben einer oder mehrere Verteidigungsfehler vorausgegangen. Notfalls kann der Königsweg aller Ausreden beschritten werden: Schuld ist der Schiedsrichter. Oder war am Ende Bestechung im Spiel?
Umgekehrt bietet der Teamsport auch reichlich Gelegenheit, sich mit fremden Federn zu schmücken. Von der Arbeit der Mitspieler zu profitieren. Sich im Lichte des Ruhmes zu sonnen, ohne viel zu diesem Ruhm beigetragen zu haben.
Doch all das ist weggewischt, alles kehrt zu den wahren Werten des Sportes und zum Fairplay zurück, wenn das Spiel auf den Punkt gebracht wird. Bei der Penalty-Entscheidung ist alles für alle offen, klar und wahr. Es gibt einfach keine Ausreden. Nicht für die Trainer. Nicht für die Schützen. Nicht für die Goalies.
Nun entscheidet Talent in seiner ganzen Ausprägung: Technik, Reaktionsschnelligkeit, Nervenstärke. All das, was einen guten Spieler eben ausmacht.
Kein Gegner stört die Aktion. Kein Hineingrätschen, kein Halten, kein Rempeln auch kein verstecktes Handspiel. Weder der Goalie noch der Schütze werden behindert oder gerempelt, der Schuss wird nicht abgelenkt, ein Eigentor ist nicht möglich und der Schiedsrichter pfeift nicht zu früh oder zu spät ab. Es gibt kein Zeitschinden, kein Hadern über zu wenig oder zu viel Nachspielzeit. Und es hilft wohl auch nicht, den Schiedsrichter zu bestechen. Es gibt im Fussball für den Goalie nicht einmal die Ausrede, er sei von der Sonne geblendet worden. Alle Penaltys werden auf das gleiche Tor gekickt.
Die Penalty-Entscheidung ist die wahre, jungfräulich reine Aktion, knitterfrei wie chinesische Seide. Jeder ganz auf sich allein gestellt. In diesem Augenblick der einsamste Mensch der (Sport)welt. Die ultimative Bewährungsprobe. Der Teamsport zerfällt in offene, für alle sichtbare Duelle. Und doch sind all diese Duelle im Dienst des Teams. Fünf Versuche sind perfekt: Genug, um einen Fehlschuss zu korrigieren und den Zufall zu eliminieren und eine Lotterie zu vermeiden.
Auch für den Trainer (Coach) ist es der Offenbarungseid: Nun zeigt sich, ob er seine Spieler tatsächlich kennt. Ihre Schwäche, ihre Stärken, ihre augenblickliche Verfassung. Nur dann kann er den Richtigen für die wichtigste Tat einsetzen.
Wer die besseren Schützen und den besseren Goalie hat, gewinnt. Ohne «Wenn» und «Aber». So einfach, so klar, so wahr und so fair ist das. Die letzte wahre Gerechtigkeit im Teamsport. Und gibt es für das Publikum bessere Unterhaltung, intensivere, dramatischere Momente? Nein. Die ganze Dramatik und Spannung werden zusammengefasst, ja zusammengedrängt, zusammengeballt, zusammengepresst in eine einzige Aktion. In Sekunden werden strahlende oder tragische Helden geboren. Mein Gastgeber kennt nach 30 Jahren noch immer den Namen des tragischen Helden des WM-Finals von 1994.
Aber bei der Suche nach Schuldigen für das schmähliche Scheitern nach regulärer Spielzeit gegen die Schweiz vor ein paar Tagen fällt ihm kein Name ein.
Penaltyschiessen ist eine Möglichkeit, bei Unentschieden ein Spiel zu entscheiden. Bestimmt besser als auslosen. Aber nicht mehr und nicht weniger.
Penalty ist mMn die sportlich unfairste Entscheidung im Teamsport.
Es ist einzig ein Vergleich der mentalen Stärke, nicht des Könnens. Im Teamsport entscheiden so viele Faktoren über Sieg oder Niederlage, das Penaltyschiessen übergeht all diese Faktoren und endet in einem Duell, welches für den Teamsport eigentlich untypisch ist.
Eine andere Lösungsform habe ich auch keine, und ich selbst liebe ja auch die Spannung in einem Penaltyschiessen, aber für den Teamsport ist es kein fairer Vergleich. Oder wie seht ihr das?