Der Schweizer Traum vom EM-Halbfinal endete gestern im Viertelfinal gegen England im Penaltyschiessen. Während bei den Engländern vom Elfmeterpunkt alle Spieler versenkten, konnte Jordan Pickford den schwach getretenen Schuss von Manuel Akanji abwehren – und rettete sein Team mit dieser Tat in den Halbfinal.
Nati-Trainer Murat Yakin sprach an der Medienkoferenz einen Tag nach dem Spiel von einer «Penalty-Lotterie» sprach, deren mentale Komponente man schwer beeinflussen könne, bei den Engländern sah es jedoch vielmehr so aus, als hätten sie aus der Finalniederlage im Elfmeterschiessen gegen Italien an der letzten Europameisterschaft gelernt und sich minutiös auf diese Situation vorbereitet. Wie The Athletic schreibt, waren die englischen Penaltys, die an Perfektion grenzten, kein Zufall, sondern das Ergebnis eines Lernprozesses. Folgende Punkte seien dabei entscheidend gewesen:
Murat Yakin scharte vor dem Penaltyschiessen die gesamte Mannschaft um sich, also auch die Auswechselspieler. Englands Gareth Southgate besprach sich jedoch nur mit den Spielern, die zum Zeitpunkt des Penaltyschiessens noch auf dem Feld waren. Also fehlte in der letzten Besprechung auch Captain Harry Kane, der bereits ausgewechselt worden war.
Beobachtete man die englischen Spieler während dem Elfmeterschiessen, wurde ersichtlich, dass sie auf eine Art «Götti-System» setzten, bei dem jeder Schütze einen Spieler zur Seite hatte, der selbst keinen Elfmeter ausführte. Jude Bellingham wurde beispielsweise von Luke Shaw unterstützt.
Der Autor Geir Jordet, der sich in seinem Buch «Pressure: Lessons from the Psychology of the Penalty Shootout» ausführlich mit dem Elfmeterschiessen auseinandergesetzt hat, sagte gegenüber The Athletic zu diesem Kniff der Engländer: «Sie haben damit verhindert, dass die Spieler in diesem Prozess auf sich alleine gestellt sind und damit den Druck ein wenig verringert.»
Manuel Akanjis Elfmeter war nicht sonderlich gut getreten. Ein Grund dafür könnte laut Jordet auch das Verhalten des englischen Torhüters Jordan Pickford gewesen sein. Als sich Akanji bereits zum Elfmeterpunkt begab, holte Pickford seine Flasche, die er einige Meter weiter auf dem Feld liegengelassen hatte. Diese Verzögerung führte dazu, dass Akanji fast 14 Sekunden lang – länger als jeder andere Schütze – bereitstand.
«Wenn Spieler acht Sekunden oder länger in dieser Position stehen, sinkt ihre Erfolgsquote auf unter 50 Prozent», sagt Jordet. Dies sei auch der Grund, dass viele Spieler den Ball auf den Punkt legen, aber erst dann in Position gehen, wenn der Schiedsrichter bereit ist. Denn: Je länger man warten muss, bis man schiessen darf, desto schwieriger ist es, die Konzentration aufrechtzuerhalten.
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— Bhavesh Gujrati (@Bhaveshlivelife) July 7, 2024
Jordan Pickford verzögerte Akanjis Wartezeit noch länger, indem er mit dem Schiedsrichter interagierte. Ein Manöver, das der italienische Unparteiische später zu unterbinden versuchte. «Er sagte mir, er würde mich vom Platz stellen, wenn ich nicht zurück zur Linie gehe», erklärte Pickford nach dem Spiel.
Der englische Torhüter hatte aber noch weitere Tricks auf Lager. So schnitt er bei Fabian Schärs Schuss eine Grimasse – im Torhüter-Business eigentlich nichts Neues – und klebte auf seine Trinkflasche einen Spickzettel, auf dem er zuvor die Schusstechniken der Gegenspieler vermerkt hatte. Bei Fabian Schär wich Pickford jedoch von seinem Skript ab: Auf der Flasche stand «rechts antäuschen, links abtauchen», Pickford entschied sich aber für das Gegenteil. Hätte er die Anweisungen befolgt, wäre er vielleicht auch an Schärs Ball gekommen.
Murat Yakin lag natürlich nicht falsch, als er sagte, dass der mentale Aspekt im Elfmeterschiessen zentral ist. Und in diesem Bereich waren die Engländer den Schweizern gestern überlegen, wohl auch, weil mit Akanji gleich der erste Schweizer scheiterte. «Die Parade zu Beginn des Elfmeterschiessens gibt einem Selbstvertrauen», meinte der englische Siegtorschütze Trent Alexander-Arnold.
Mentale Stärke bewies auch Bukayo Saka, der vor drei Jahren gegen Italien nicht getroffen hatte und gegen die Schweiz erneut antrat. «Man kann einmal scheitern und hat dann die Wahl, ob man es wieder versucht oder nicht. Ich bin ein Typ, der sich davon nicht unterkriegen lässt, ich habe an mich geglaubt», sagte Saka über seinen Penalty.
Auffällig war auch der Schuss von Ivan Toney. Sein Blick war konstant auf Yann Sommer gerichtet, selbst als er den Elfmeter ausführte, schien es so, als würde er überhaupt nicht auf den Ball, sondern nur auf den Schweizer Torhüter schauen.
Ivan Toney's penalty was COLD 🥶
— The Sun Football ⚽ (@TheSunFootball) July 6, 2024
He didn't even look at the ball 😮 #Euro2024 pic.twitter.com/bATGV34clx
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist laut Jordet, dass man sich als Schütze Zeit nimmt, um ruhig durchzuatmen und sich dem Moment bewusst zu werden: «Wie lange Spieler vom Pfiff bis zum Anlauf brauchen, ist oft ein Hinweis darauf, wie bewusst sie den Ablauf geplant haben», sagt Jordet. «Die englischen Spieler brauchten im Durchschnitt 5,2 Sekunden – die Schweizer 1,3 Sekunden.»
England konnte aber auch auf einige hervorragende Penalty-Schützen zurückgreifen. Cole Palmer (zwölf von zwölf), Jude Bellingham (fünf von fünf) und Trent Alexander-Arnold (vier von vier) haben alle eine Elfmeter-Verwertungsquote von 100 Prozent. Auch Sakas (87,5 Prozent) und Toneys (92,7 Prozent) Werte liegen deutlich über der durchschnittlichen Verwertungsquote von ungefähr 75 Prozent.
Sowohl Gareth Southgate als auch Jordan Pickford waren nach dem Spiel darauf bedacht, nicht viel über die englische Penalty-Routine preiszugeben. Als Pickford von einem Journalisten auf seine Vorbereitung angesprochen wurde, unterbrach ihn ein Pressesprecher der «Three Lions» und Gareth Southgate meinte zum englischen Erfolgsrezept nur: «Wir haben den Prozess beim Elfmeterschiessen ein wenig verfeinert und wir haben mehr regelmässige Elfmeterschützen im Kader als noch 2021.»