Für einige Schweizer ist es das grösste Spiel der Karriere. Für andere der Achtelfinal mit der nächsten Möglichkeit, sich endlich mit etwas Einmaligem zu dekorieren und den Selbstansprüchen gerecht zu werden. Der EM-Achtelfinal gegen Frankreich kommt in der helvetischen Fussballhistorie sowieso ganz weit oben. Der französische Weltmeister ist deutlich zu favorisieren. Aber es könnte auch alles anders kommen. Neun Gründe, warum die Schweiz in den Viertelfinal einzieht.
Die Schweizer sind weit gereist und viel geflogen, nach Baku, nach Rom, wieder nach Baku, wieder zurück nach Rom, am Freitag nun nach Bukarest. Ihr letztes Spiel bestritten sie jedoch vor acht Tagen, danach konnten sie Energie tanken und zusehen, wer ihnen gegenüber am Achtelfinaltisch hinsitzt. Frankreich musste in der «Todesgruppe» F dreimal in die Vollen gehen, zuletzt am Mittwoch und damit 72 Stunden später als die Schweiz.
Zudem spielen 19 von 26 Profis der Franzosen in grossen Klubs wie PSG, Barcelona, Real Madrid oder den Bayern. Und damit auch lange im Europacup. Nach einer intensiven Saison mit vielen Partien – Mbappé (PSG) hat 3720 Minuten in den Beinen, Griezmann (Barcelona) 3873, Lloris (Tottenham) 4380, Benzema (Real) 3874 – wirken die Stars müde, in jedem Gruppenspiel liefen die Franzosen weniger als der Gegner. Bei den Schweizern absolvierten einzig Xhaka und Freuler mehr als 3600 Einsatzminuten mit ihren Klubs.
Natürlich schon: einen Achtelfinal. Doch nach zwei Begegnungen waren die Schweizer mit einem Bein schon ausgeschieden oder zumindest ziemlich arg in Schieflage. Mit einer gefälligen Reaktion gegen die Türken spielten sie sich danach verdient ins Achtelfinaltableau, und nun wartet mit dem amtierenden Weltmeister der Favorit der Buchmacher und Fans auf den EM-Titel schlechthin. Die Devise kann demnach nur lauten: Die Schweizer haben nichts zu verlieren, stattdessen alles zu gewinnen. Ihre EM kann beginnen, und dies bei 0:0.
Die Schweiz ist zum vierten Mal in Serie in einem EM- oder WM-Achtelfinal. Xhaka, Rodriguez, Seferovic und Shaqiri standen dabei jedes Mal auf dem Platz, wenn nach dem ersten Spiel der K.o.-Runde die Koffer gepackt werden mussten. Dabei packt doch gerade Xhaka jeweils bis in den Final. Rodriguez sagt, gerade mit Blick auf das bittere Ausscheiden gegen Polen 2016: «Wir haben Elfmeterschiessen geübt, fast jeder hat getroffen.»
Widmer passt es, dass die Schweizer nun Aussenseiter sind; damals gegen Polen und Schweden waren sie dies nicht und scheiterten an der Favoritenrolle. Zudem gibt es heuer keine Hinweise darauf, dass die Spannungskurve abflacht wie an der WM 2018. Der Gegner ist Motivation genug.
Darauf lassen die französischen Medien und Reaktionen der Fans schliessen, ein Spaziergang werde es gegen «Les Petits Suisses», schreiben und sagen sie. Die Schweizer gelten quasi als letzter Aufwärmgegner, bevor es dann so richtig ernst wird ab dem Viertelfinal, wo womöglich Spanien wartet. Den Franzosen ist auch das 5:2 im zweiten Gruppenspiel der WM 2014 gegen die Schweiz im Kopf, wenn sie solche Dinge von sich geben, und weil es halt auf dem Papier eine klare Angelegenheit ist.
Das beweist allein der Vergleich der Kadermarktwerte: 1,03 Milliarden Euro auf Seite der «Les Bleus» stehen fast schon erbärmlich wirkende 288,5 Millionen Euro gegenüber. Wobei allein Mbappé 160 Millionen Euro wert ist. Deshalb sagt Akanji: «Natürlich haben die Franzosen einen Topsturm. Wir müssen unser höchstes Level erreichen und solidarisch verteidigen.»
Bis jetzt ist Frankreich in den Gruppenspielen wie ein gutes Pferd nur so hoch über die Hindernisse gesprungen, wie es musste. Wenn die Latte unerwartet hoch liegt, ist ein fehlerfreier Ritt vielleicht plötzlich nicht mehr möglich. Kenner des französischen Fussballs berichten, dass etwas mit der Mannschaft von Didier Deschamps nicht stimme, sie nicht recht auf Touren kommen mag. Die «Équipe Tricolore» überzeugte bisher jedenfalls nicht.
Benzema ist diesbezüglich gewiss ein Faktor, seine Rückkehr spaltete die Nation, vielleicht auch das Team. Ein anderer ist der Umschaltfussball auf Weltklasseniveau, der effizient, aber nicht wirklich attraktiv anzuschauen ist. Hinzu kommen Verletzte wie Angeschlagene (Dembélé, Hernandez, Digne, Pavard), die Deschamps zu Umstellungen zwingen.
Es lief entgegen aller Hoffnungen und Bestrebungen nicht alles rund bei den Schweizern – wie schon in Russland. Nebenschauplätze und eine Nichtleistung gegen Italien dominierten die Presse wie Volkes Stimme und führten zu einem Vertrauensverlust ins Team. Wie es dann auf die Kritik mit einer Art Wagenburg-Mentalität und viel Trotz reagierte, zeugt von Qualität und einem funktionierenden Klima. Akanji sagt: «Wir wollen als Mannschaft auftreten und haben schon bewiesen, dass wir gut gegen solche Rivalen spielen können. Wir haben vor keinem Gegner Angst und wollen mutig sein.»
Es ist ein Fakt: Kaum werden die Partien wichtiger, sind die Hoffnungen in Shaqiri fast schon überdimensional gross, meist sieht man in ihm dann einen Weltauswahlspieler. Das ist der 29-Jährige beileibe nicht, aber was gewiss hilft: Dass er Form und Rhythmus gefunden hat. Schon im Vorfeld der EM sagte er über sich: «Ich in ein Spieler, der den Unterschied ausmachen kann und bin froh, wenn ich der Mannschaft helfen kann.» Gegen die Türken machte er mit Zuber den Unterschied – auf einen wirbelnden Zwirbel-Shaqiri sind die Schweizer wieder besonders angewiesen.
Die Schweizer wissen, dass die Franzosen eher abwartend agieren. Indem er dagegen Lösungen aufzeigt und taktiert, kann Nationaltrainer Vladimir Petkovic auf der europäischen Bühne einen nächsten Tatbeweis erbringen, wie gut er als Trainer ist. Vielleicht ist auch eine Prise Pragmatismus angezeigt. Einen Ausweg aus ihrer Situation fand die Schweiz übers Kollektiv bereits gegen die Türken – sie besann sich auf Bewährtes zurück, das auch gegen «Les Bleus» angezeigt ist: Verantwortung übernehmen, Moral zeigen, zielstrebig agieren, mit Lust, Leidenschaft, Witz und Tempo spielen und dabei stets solidarisch kämpfen und zusammenhalten. Einzig in Sachen Effizienz müssen die Schweizer nochmals eine Schippe drauflegen.
Sobald vieles zusammenpasst bei den Schweizern, haben sie schon mehrfach bewiesen, wie schwierig es ist, sie zu besiegen. Man frage bei den Deutschen (2020), Spaniern (2020), Argentiniern (2014) nach. Oder auch bei den Franzosen, denen die Schweizer ein 0:0 an der EM 2016 abrangen.
Die Schweizer haben mit dem Achtelfinal erst ein Minimalziel erreicht, sehen sich noch nicht am Ende ihres Weges. Xhaka sagt: «Wir wollen dieses Mal nicht sprechen und reden, sondern wir wollen es auch tun.» Embolo sagt: «Im Achtelfinal musst du nun mal einen raushauen.» Und Sommer: «Die Mannschaft wird bereit sein.» Und Akanji: «Wenn wir weit kommen wollen im Turnier, müssen wir auch einen Gegner wie Frankreich schlagen.»
Bleibt noch zu erwähnen: Es gibt mit Belgien und Frankreich gerade mal zwei Nationen, die wie die Schweiz seit 2014 ununterbrochen in einem Achtelfinal standen. So spricht es nur für die Attitüde dieser Generation, dass sie mittendrin sein will statt nur dabei. Dass sie sich und allen beweisen will, was ihrem Selbstverständnis entspricht. Die Zeit für den Ausreisser nach oben und sich selbst zu vergolden ist für diese talentierte Generation reif. Deshalb: Mut an, Angst aus, Glückauf!
Wenn wir mehr Tore machen als die Franzosen, sind wir im Viertelfnal.