Schon einmal von den Shamrock Rovers gehört? Die Fussballmannschaft aus Dublin ist irischer Rekordmeister, auf der europäischen Bühne aber weitgehend unbekannt. Fussball und Irland, das ist nicht die ganz grosse Liebe, trotz geografischer und kultureller Nähe zum fussballverrückten England.
Nach dem Grund braucht man nicht lange zu suchen: Die Iren zelebrieren nämlich einfach lieber ihre ganz eigenen Sportarten. Sprechen die Irinnen und Iren von Football, meinen sie weder Fussball noch American Football, sondern Gaelic Football.
Das Wetter zeigt sich für einmal von der sonnigen Seite, als sich die Fans im McHale Park in Castlebar einfinden. Heute spielen hier die Gaelic-Football-Teams aus den Countys Mayo und Galway gegeneinander. Was sofort auffällt: Es wird kein Bier getrunken. Im McHale Park gilt ein Alkoholverbot, um nicht zu riskieren, dass die Gemüter während der emotionalen Partie zusätzlich erhitzt werden.
Das Geschehen auf dem Spielfeld wirkt auf das ungeschulte Auge zunächst einmal ziemlich wild, so als könnten sich die Mannen auf dem Feld nicht entscheiden, ob sie nun Fussball, Basketball, Handball, Volleyball oder Rugby spielen wollen.
Schaut man genauer hin, merkt man aber, dass die Spieler sehr wohl wissen, was sie tun. Anders als im Fussball, wo die Hand nichts am Ball zu suchen hat – es sei denn, es handle sich um die Hand Gottes –, darf im Gaelic Football jeder Körperteil eingesetzt werden. So wird der Ball mit der Hand oder dem Fuss gepasst, bis er bestenfalls im Tor landet. Auch beim Tor scheint es, als hätte man sich nicht auf eine Sportart einigen können: Im unteren Bereich der beiden Rugby-Torstangen befindet sich eine Torumrandung, wie wir sie aus dem Fussball kennen. Gepunktet werden kann in beiden Bereichen.
Ebenfalls auffällig: Es gibt keine unterschiedlichen Sektoren für Gäste- und Heimfans. Die Stimmung ist friedlich und auch als das Heimteam kurz vor Schluss mit allen Mitteln versucht, seinen Rückstand wettzumachen, und die Zuschauenden ganz aus dem Häuschen sind, lassen sich weder die Fans noch die Spieler zu Tätlichkeiten hinreissen. Ein solch friedlicher Nachmittag ist im Gaelic Football jedoch keine Selbstverständlichkeit. Nicht umsonst bezeichnete Michael Wildberg von «Vice» den Sport als «Mischung aus Fussball, Basketball und einer Kneipenschlägerei».
Irland wäre nicht Irland, wenn sich nicht auch um den Gaelic Football viele Legenden ranken würden, die bis heute überdauert haben. Die Geschichte des Teams aus Mayo geht so: 1951 macht sich die Equipe nach einer siegreichen Partie gegen Meath auf den Rückweg in den zerklüfteten Westen Irlands. Dabei überholen sie einen Trauerzug – dieses respektlose Manöver kommt bei der Witwe des Verstorbenen gar nicht gut an. Und so belegt sie die Mannschaft mit einem Fluch: Solange noch einer der Spieler am Leben ist, soll Mayo keinen Titel mehr gewinnen.
Seit 1951 hat Mayo tatsächlich keinen grossen Titel mehr gewonnen. Auch an diesem Nachmittag mit perfektem Fussballwetter gehen die Spieler aus dem County in Westirland als Verlierer vom Platz.
Den Stellenwert, der Gaelic Football in Irland hat, zeigt auch eine Begegnung, die sich auf einer Strasse in Paris zugetragen haben soll. Samuel Beckett, einer der wichtigsten irischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, ging gerade seines Weges, als er von einem irischen Priester erkannt wurde. Der soll ihn gefragt haben, ob er oft in seiner irischen Heimat anzutreffen sei:
«Rarely, but I have been invited to Dublin in September.»
(«Selten, aber für den September wurde ich nach Dublin eingeladen.»
«Ah, not so bad. You'll miss the hurling*, but you'll be there for the football.»
(Könnte schlimmer sein, dann verpasst du zwar das Hurling, bist aber rechtzeitig für den Football zurück.)
* Hurling ist neben Gaelic Football die zweite keltische Sportart, die in Irland sehr beliebt ist. Sie ist eine der schnellsten Mannschaftssportarten der Welt und wird mit Schläger und Ball gespielt.
Gaelic Football ist nicht nur auf symbolischer Ebene ein Volkssport, der vom Priester bis zum Schriftsteller die Gemüter bewegt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist nämlich eine der wenigen Sportarten, die ausschliesslich auf Amateurbasis betrieben wird. Will heissen, dass die Spielerinnen und Spieler mit dem Sport kein Geld verdienen. Dies ist umso erstaunlicher, als dass die Topspiele sehr viel mehr Zuschauende anlocken als ein Spitzenkampf im Schweizer Fussball.
Wer schon einmal in Dublin war, hat ihn womöglich gesehen, den riesigen Betonklotz im Norden der Stadt, den Croke Park. Das Stadion ist zwar kein architektonisches Wunderwerk, dafür aber eines der grössten Stadien Europas. Es bietet Platz für 82'300 Personen und beherbergt viele wichtige Events in Irlands Hauptstadt – vom Empfang des Papstes bis hin zum Final der All Ireland Senior Championship, dem wichtigsten Turnier im Gaelic Football, das jeweils Ende Juli stattfindet. Das Stadion ist wie kein zweiter Ort mit der irischen Seele verwoben.
Um dies zu verstehen, müssen wir in die 1920er-Jahre zurück, als der irische Unabhängigkeitskrieg gegen die englischen Besatzer seinen traurigen Höhepunkt erreichte: Am Bloody Sunday tötete die irische Untergrundorganisation IRA zwölf britische Agenten. Der Legende nach sollen die Engländer den Croke Park per Münzwurf als Ort der Rache der toten Agenten auserkoren haben. Während der Gaelic-Football-Partie zwischen Dublin und der Grafschaft Tipperary eröffnete eine Spezialeinheit kurz nach Anpfiff das Feuer und tötete 14 Menschen, darunter ein zehnjähriges Kind.
Die erste schriftliche Erwähnung eines Spiels namens «Football» geht auf die Statuten der Stadt Galway aus dem Jahr 1527 zurück, und zwar im Zusammenhang mit dem Sunday Observance Act. Dieses Gesetz sah unter anderem ein Verbot von Sportveranstaltungen an Sonntagen vor, da diese zu «tumultartigen und chaotischen» Menschenansammlungen führen würden – ein Verbot, über das sich die irische Bevölkerung hinwegsetzte. Im Laufe der Jahre durchlief das «Rough-And-Tumble-Game», also das raue Spiel, eine stetige Entwicklung und trug viele verschiedene Namen. 1884 wurde schliesslich die Gaelic Athletic Association (GAA) gegründet und das wilde Treiben auf dem Rasen wurde zum ersten Mal in geregelte Bahnen gelenkt.
Heute wird in über 2200 Vereinen Gaelic Football gespielt. Über die lokalen Provinz-Meisterschaften können sich die Teams aus 31 Counties (Kilkenny ist das einzige County, das nicht teilnimmt) für das Saisonhighlight, die All-Ireland Senior Football Championship, qualifizieren. Das Finalspiel findet jeweils im Juli im Croke Park statt – Rekordsieger ist das Kerry mit insgesamt 38 Siegen.
Genau wie im irischen Rugby sind auch in der All Ireland Championship nordirische Klubs vertreten – keine Selbstverständlichkeit auf der zweigeteilten Insel. Konfessionelle Gräben zwischen dem katholischen Süden und dem von England unterstützten, protestantischen Norden sorgten in der Vergangenheit für blutige Auseinandersetzungen. Seit 1921 gehört der Norden – wo mittlerweile übrigens ebenfalls mehr Katholiken als Protestanten wohnen – zum Vereinigten Königreich. Gaelic Football vermag sogar diese Grenze, die sich wie eine Narbe durch das kollektive Gedächtnis der Irinnen und Iren zieht, wenigstens für einen kurzen Moment zu überwinden.
Die Partie im McHale Park geht zu Ende, Galway gewinnt auswärts gegen Mayo. Die Menschen strömen aus dem Stadion und machen in den vielen kleinen Pubs in der Umgebung halt. Hier gilt kein Alkoholverbot und so trinken die Fans von Mayo und Galway gemeinsam ein Guinness und besiegeln einen gelungenen Football-Nachmittag, an dem der mitgebrachte Regenschirm ausnahmsweise mal überflüssig war.
Man muss die Iren lieben.