Unmittelbar vor dem wichtigsten Heimspiel seit 39 Jahren am Donnerstag gegen den englischen Giganten Chelsea spricht der Westschweizer im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA über die genussvollsten Tage seiner gesamten Laufbahn. Und er blickt ambitioniert in die Zukunft: «Irgendwann will ich einen Klub oder Verband als CEO führen.»
Gelson Fernandes, Sie schossen einst den späteren Weltmeister Spanien ab und kennen nach Gastspielen in den weltbesten Ligen alle Facetten. In welcher Gefühlswelt leben Sie aktuell? Wo sind die Ergebnisse der Eintracht einzustufen?
Gelson Fernandes: Ganz hoch ordne ich unsere Resultate ein, europäisch spielten wir teilweise fantastisch. Ich habe puren Spass. Wissen Sie, mir ist klar, dass mir nicht mehr viele solche Momente bleiben. Ich bin einfach glücklich, mit 32 noch auf diesem Niveau spielen zu dürfen – es ist ein Genuss!
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— Eintracht Frankfurt (@eintracht_us) April 24, 2019
Sie besitzen generell eine positive Ausstrahlung, aber momentan ist Ihr Energie-Level unfassbar hoch.
Ich habe unglaublich viel Spass, ich ziehe mein Ding voll durch. Als junger Spieler macht man sich selber Druck, will die Karriereplanung perfektionieren. Bei mir ist alles gemacht, ich kann den letzten Teil meiner Laufbahn furchtlos geniessen. Für mich fühlt sich alles wie eine Art Bonusrunde an.
Nach der Halbfinal-Qualifikation sassen Sie vor der prall gefüllten Eintracht-Kurve, nehmen Sie uns mit ins Kopfkino.
Diese unendliche Flut von Emotionen bleibt für immer, eine solche Szenerie vergisst man nie. Die Fans geben uns wahnsinnig viel Kraft! Sie tragen uns. Das sind unbeschreibliche Momente. Es fällt mir schwer, für die Ambiance von jenem Abend die richtigen Worte zu finden.
Die «Süddeutsche Zeitung» schrieb, es würde für jeden schwierig, die Eintracht zu stoppen, die «FAZ» schwärmt von der Frankfurter Magie. Hatte Sie weder Lazio, Schachtar, Inter noch Benfica auf dem Radar?
Das weiss ich nicht, inzwischen rechnen wohl alle mit uns. Wir haben einfach ein gutes Team. Wir haben gute Typen und wenig Egos – bei uns gibt jeder Gas. Frankfurt ist sehr international aufgestellt, aber jeder ist vorbildlich integriert.
Was spielen Sie für eine Rolle, was fliesst von Ihnen mit ein? Im Nationalteam fielen Sie bis zu Ihrem Rückzug im letzten Sommer mit Ihrer erfrischenden, sozialkompetenten Art auf.
Ein bisschen Spass darf immer sein, aber die Arbeitseinstellung muss seriös bleiben. Nur: Wenn ich auf der Bank sitze, hält sich mein guter Einfluss in Grenzen, da fehlt mir die Power. Ich kann meine Mitspieler nur unterstützen, wenn ich auf dem Platz stehe. So kann ich die Jungen mitziehen. Um eine Führungsrolle zu haben, muss man spielen – das ist einfach so. Sonst muss man Trainer werden!
Trainer? Denken Sie schon an den nächsten Schritt?
Aktuell bin ich gerade dabei, den Master-Abschluss zu machen. Irgendwann will ich einen Klub oder Verband als CEO führen. Mir ist es wichtig, irgendwann zu wissen, wie es nach dem Rücktritt weitergeht. Für einen Sportler ist es heikel, unvorbereitet in in die Zukunft zu gehen. Irgendwann ist es fertig, da schadet ein durchdachter Plan nie.
Nach neun Stationen im Ausland dürfte Sie nur wenig aus der Reserve locken?
Ich kenne die Fussball-Kulturen vieler Länder. Ich habe viel Gutes und auch weniger Gutes gesehen in Europa.»
Zurück zum Tagesgeschäft. Adi Hütter zieht mit seinem Coaching alle in den Bann. Wo ordnen Sie den Österreicher ein?
Er ist gut, sehr gut. Adi Hütter besitzt eine unglaubliche Sozialkompetenz. Top, top, top! Wir haben 35 Spieler im Kader. Hütter schafft es, alle an Bord zu nehmen. Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen. Wir haben einen Spieler, Simon Falette. Er stand gegen Benfica im Rückspiel von Anfang an auf dem Platz, obwohl er zuvor letztmals im Januar gegen Werder Bremen einen Einsatz hatte. Simon machte es überragend. Warum? Weil der Coach mit jedem im Team ehrlich umgeht und ihn stärkt.
Hütter schreibt ein Jahr nach dem YB-Märchen die nächste grosse Story.
Er ist ein intelligenter Mann mit einem genauen Plan. Er will etwas erreichen im Fussball, Hütter ist extrem ambitioniert. Und klar: Die Erfolge helfen ihm.
Welche Qualität der Eintracht ist für Sie massgeblich?
Die Mentalität, die Mentalität, keine Frage. Wir reisen in dieser Saison extrem viel, unsere Agenda ist voll. Manchmal haben wir kaum mehr Benzin, und trotzdem können wir fast immer das Maximum abrufen.
Was fällt Ihnen im Zusammenhang mit dem Halbfinal-Gegner Chelsea ein?
Ich habe keine Angst vor den Engländern. Richtig schwierig hingegen war die Aufgabe gegen Schachtar Donezk im 1/16-Final. Alle dachten, wir könnten durchspazieren. Unser Glück war, dass diese Top-Mannschaft damals keine Matchpraxis hatte.
Chelseas Equipe wird von Experten mit über 880 Millionen Euro bewertet. Benötigen Sie ein mittleres Wunder?
Was haben wir zu verlieren gegen Chelsea? Nichts! Zu Hause in Frankfurt wird der Baum brennen, für uns Frankfurter ist es ein Traum. Die kleine Eintracht gegen das grosse Chelsea. Sie stehen unter maximalem Druck.
Und Sie stehen im maximalen Rampenlicht. Nehmen Sie das Umfeld überhaupt noch wahr?
Jeder will etwas wissen, das ist klar. Aber meine Zeitreserven werden knapper. Unser Kalender ist ausgefüllt. Man muss die Energie kanalisieren. Der Fokus wird auf das Wesentliche ausgerichtet.
Bleibt aber dennoch etwas Zeit, sich mit früheren Nationalteam-Kollegen auszutauschen?
Man sieht sich ab und zu. Und es ist wie immer mit guten Kollegen: Wir sollten telefonieren und abmachen, dann ziehen wieder Monate ins Land. Jeder hat seine eigenen Projekte. Vielleicht schaue ich mir in Porto ganz gemütlich die Nations-League-Spiele der Schweiz an. Aber am liebsten spanne ich aus, lade meine Batterien wieder auf, nehme es gemütlich in den Ferien – ich bin ja ein alter Mann. (abu/sda)