Willkommen in der Hölle: Türkische Fans begrüssen die Schweizer.
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David Nadig war mittendrin, statt nur dabei. Der Radio-Journalist freute sich auf den Barrage-Knüller der Schweiz in Istanbul – und erlebte in Istanbul das Gegenteil der vielgerühmten türkischen Gastfreundschaft. Zehn Jahre später sind seine Eindrücke noch so frisch, als wäre das Spiel gestern gewesen.
16.11.2015, 14:0317.11.2015, 10:14
Durch Tore von Philippe Senderos und Valon Behrami gewinnt die Schweiz das Barrage-Hinspiel gegen die Türkei im Berner Stade de Suisse mit 2:0. Die Qualifikation für die WM 2006 ist zum Greifen nahe. Doch schon bei der Ankunft am Flughafen in Istanbul wird klar: Die Türken sind auf Rache aus, im wahrsten Sinne des Wortes.
David Nadig ist Sportchef und Stv. Chefredaktor von Radio Zürisee.
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«Ich freute mich auf die Reise nach Istanbul. Cool, 1001 Nacht. Aber denkste! Das Gegenteil war der Fall. Ich flog in der gleichen Maschine wie die Fussball-Nati nach Istanbul. Schon im Gang beim Aussteigen aus dem Flugzeug wurden wir von Flughafenangestellten angeschrien. ‹Hurensöhne›, ‹Arschlöcher›, alles Mögliche, was unter der Gürtellinie ist. Kurios war, dass wir beim Warten auf das Gepäck noch das Gefühl hatten, die Flughafenarbeiter in diesem Bereich seien Fans der Schweizer, die Autogramme wollen. Bei der Passkontrolle wurden wir dann aber bis auf das Äusserste schikaniert. Stunden vergingen, ohne das etwas passiert wäre und es war heiss, wir schwitzten wie verrückt. Ich war zuvorderst in der Reihe und mein Pass war neu, die meisten Seiten noch leer. Trotzdem blätterte der Kontrolleur minutenlang im Nichts. Und das bei jedem einzelnen Schweizer. Einzig deshalb, damit wir möglichst lange aufgehalten werden.»
Nach fast endlosem Verharren am Flughafen schaffen es die Nationalmannschaft und die Journalisten in die Cars, die sie in die entsprechenden Hotels bringen sollten.
«Auf dem Weg ins Hotel wurde der Nati-Bus beworfen. Dies bekamen wir Journalisten nicht mehr mit, weil unser Bus zuvor schon problemlos zum Hotel fuhr. Wir waren nicht im selben Hotel wie die Nati. Von dem Zeitpunkt an, als wir den Flughafen verliessen, war alles normal. Die Hotelangestellten waren nicht belästigend. Auch das Abschlusstraining der Nati im Besiktas-Stadion am Tag vor dem Rückspiel verlief ruhig. Ich vermute, die Leute wussten gar nicht, dass wir Journalisten sind. Richtig los ging es erst am Tag des Spiels.»
Das Spiel ist von Anfang an hitzig. Unterbrüche gibt es im Minutentakt.
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Es ist soweit. Der 16. November 2005 sollte in die Geschichte des Schweizer Fussballs eingehen. Nicht nur sportlich. Für die Journalisten wurde es ein langer, sehr langer Weg ins Sükrü-Saracoglu-Stadion in Istanbul.
«Wir wurden im Hotel mit dem Bus abgeholt. Alle glaubten, dass wir nun zum Stadion fahren. Aber von wegen! Zuerst fuhren wir mit dem Bus in einen stockdunklen Hinterhof. Wir fragten uns: ‹Was genau passiert jetzt?› Plötzlich tauchte ein türkisches Kamerateam aus der Dunkelheit auf und filmte in den Bus. Wahrscheinlich, um uns zu erschrecken. Dann fuhr der Bus aus diesem Hinterhof raus und zum Stadion-Eingang, wo wir ausstiegen. Da war ein riesiger Mob, der uns mit Milch-Tetrapacks, Eiern und Tomaten bewarf. Irgendjemand musste das organisiert haben, denn wir waren ja nicht als Journalisten angeschrieben. Mehrere Reporter hatten als Folge Eier-verschmierte Jacken, furchtbar. Schliesslich führten sie uns zu einem engen Eingang, bei dem man fast schon Platzangst bekam, bevor es hiess: ‹Falscheingang, ihr müsst wieder in den Bus einsteigen›. Also mussten wir aus dem engen Eingang wieder raus, wurden natürlich wieder mit Lebensmitteln beschossen, um nach einer 50-Meter-Fahrt vor dem richtigen Eingang zu halten. Es war schlimm. Wenn ein Tetrapack Milch am Fenster des Busses einschlug war es, als würde eine Bombe neben dir explodieren. Als ich einen Blick aus dem Fenster wagte sah ich Leute, die das Zeichen machten, mir den Hals abschneiden zu wollen. Es war höchst unangenehm, in diesem Moment.»
Das Spiel beginnt. Die Schweiz geht durch einen von Alex Frei verwandelten Elfmeter schon nach zwei Minuten in Führung. Die WM-Qualifikation scheint nur noch Formsache zu sein. Doch das türkische Publikum lässt nichts unversucht, um den Hexenkessel zum Überlaufen zu bringen.
«Unsere Plätze waren mitten im Publikum. Wir hatten keine richtigen Medienplätze. Mein Gerät für die Radio-Übertraung balancierte ich während des ganzen Spiels auf den Oberschenkeln. Vor mir waren nur fanatische türkische Fans. Deshalb durfte ich bei Live-Schaltungen in die Schweiz auf keinen Fall zu euphorisch berichten. Beim 1:0 durch Frei sagte ich zum Beispiel nur: ‹Die Schweiz führt bereits nach eineinhalb Minuten mit 1:0. Nach diesem Start nach Mass aber erstmal wieder zurück zu dir ins Studio›. Der Moderator im Studio in der Schweiz musste die Hörer sogar darauf hinweisen, dass ich dazu gezwungen war, ruhig und möglichst unauffällig zu berichten. Die gesamten 90 Minuten bekam ich von den Türken vor mir regelmässig Boxhiebe in den Rippenbereich. Als wir nach dem Spiel dabei waren, unsere sieben Sachen zusammenzupacken, um zu verschwinden, haben türkische Fans den Radioreporter neben mir zuerst angespuckt und ihm dann seinen Schreibblock zerfetzt. Reiner Hass auf alles, was irgendwie schweizerisch aussah.»
Der goldene Treffer: Streller umkurvt Volkan und trifft zum 2:3.
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Es ist vollbracht. Die Schweiz qualifiziert sich nach einer 2:4-Niederlage dank der Auswärtstor-Regel für die WM 2006. Nach dem Schlusspfiff flüchten die Schweizer Spieler in die Katakomben. Aus den Zuschauerrängen fliegen Gegenstände auf den Platz. Der türkische Assistenztrainer versucht, einem Schweizer Spieler das Bein zu stellen. Die Tumulte nehmen ihren Lauf. Der Verteidiger Stéphane Grichting kriegt einen Tritt in den Unterleib, muss in den Spital. Torwarttrainer Erich Burgener wird von einem Wurfgegenstand getroffen. Auf Schweizer Seite ist es vor allem Benjamin Huggel, der sich verteidigt und mächtig austeilt.
«Nach dem Abpfiff packten wir so schnell wie möglich zusammen und verliessen die Tribüne. Um in die Mixed-Zone zu kommen, mussten wir auf das Spielfeld runter und hinter dem Tor durchlaufen. Genau dort, wo keine türkische Seele seinen Platz nach dem Spiel geräumt hatte. Feuerzeuge, Plastikteile und Münzen flogen uns um die Ohren. Zu diesem Zeitpunkt waren die Tumulte in den Katakomben schon vorbei. Ich sah nur von Weitem, dass da geprügelt wurde. Zuerst dachte ich, dass auch die Türken vor dem Mob in die Kabinen flüchteten, weil sie sich nicht qualifizierten. Später stellte sich aber heraus, dass die türkischen Spieler und Funktionäre die Schweizer verfolgten. Wir wurden dann irgendwo durch das Labyrinth in die Mixed-Zone geführt, die bei der Busgarage war. Dort konnten wir dann die Interviews führen. Die Schweizer Spieler waren komplett aufgebracht. Der Schock stand ihnen ins Gesicht geschrieben.»
Die Stimmen der Nati: Nadigs Radio-Beitrag am Morgen nach der Partie.
audio: Radio zürisee
Am Tag danach tritt die Schweiz mit der WM-Quali im Sack die Rückreise an – ohne Zwischenfälle. Zurück in der Heimat wird die Schweizer Nati von zahlreichen Fans empfangen. Balsam für die Seele, nach einem Fussball-Spiel, das komplett aus dem Ruder lief. Ein Spiel, das in den Köpfen aller Beteiligten für immer in Erinnerung bleiben wird.
«Ich befürchtete schon, dass die Türken uns bei der Rückreise noch einmal durch die Hölle gehen lassen. Zum Glück habe ich mich getäuscht. Es gab keine Probleme mehr. Bis heute war ich nicht mehr in Istanbul, obwohl die Stadt wunderschön ist. Mit Sicherheit liegt dies auch am mit Abstand schlimmsten Erlebnis, das ich als Journalist erlebt habe. Heute kann ich mit einem Lachen zurück schauen und bin froh, dabei gewesen zu sein. Es ist fast ein Jahrhundert-Ereignis für den Schweizer Sport. Ausschreitungen habe ich schon viele gesehen. Aber wenn man es selber erlebt in dieser Art – grauenhaft. Ich war unglaublich froh, als das Flugzeug in Istanbul abhob.»
Lustrinelli rutscht aus, Streller eilt in die Katakomben, Huggel eilt seinen Mitspielern zur Hilfe.
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Türkische Fans erinnern sich
Deniz Thoma (25):
«Ich will nicht rechtfertigen, was in der Türkei passiert ist. Aber das Auspfeifen der türkischen Nationalhymne in der Schweiz war auch unter jeder Sau.»
«Dass Flughafenangestellte, also Beamte, sich so daneben verhalten konnten, zeigte den Normalbürgern, dass es keine Grenzen gibt.»
Oktar Gar (22):
«Der Grund für den gegenseitigen Hass waren die Medien. Der Sport geriet durch den Psychokrieg leider in den Hintergrund.»
«Als in der Schweiz lebender Türke musste ich mir dumme Sprüche von allen Seiten anhören. Es war unmöglich, mich zu verteidigen. Ich war mit meiner Meinung alleine.»
Aydin Gar (44):
«Die Provokationen von Seiten der Schweizer Medien vor dem Hinspiel in Bern waren entscheidend dafür, was in Istanbul geschah. Das rechtfertigt das Verhalten der Türken trotzdem nicht.»
«Trainer Fatih Terim hat die türkischen Spieler dermassen aufgeheizt vor den Spielen, dass diese komplett übermotiviert in die Partien gingen. Hätte der Schiri das Spiel im Griff gehabt, wäre das Spiel niemals mit elf gegen elf Spieler zu Ende gegangen.»
Die Karriere von Marco Streller
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Die Karriere von Marco Streller
2002: Marco Streller als 21-Jähriger beim FC Basel.
quelle: keystone / markus stuecklin
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