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Adele Walton: Ihre Schwester starb wegen eines Suizid-Portals von Incels

Ihre Schwester starb wegen eines Suizid-Portals, das von Incels betrieben wird

Die 25-jährige Adele Zeynep Walton klagt in ihrem hervorragenden Buch «Logging Off» gegen digitale Gewalt. Aus schmerzhafter eigener Erfahrung.
28.06.2025, 20:0428.06.2025, 20:12
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2,6 Minuten dauert der Weg in die Hölle. Denn nach 2,6 Minuten werden einer 13-Jährigen auf TikTok niederschmetternde Inhalte gezeigt, schreibt die 25-jährige Autorin Adele Zeynep Walton in ihrem eben erschienenen Buch «Logging Off: The Human Cost of Our Digital World». 2,6 Minuten bis zu Posts von Menschen mit Depressionen, Essstörungen, Suizid-Gedanken. Die Zeitmessung stammt von Amnesty International, die Menschenrechts-Organisation hat eine angeblich 13-jährige Tiktok-Nutzerin auf Erkundungstour geschickt.

Adele Walton hat 2022 ihre Schwester Aimee an genau diese Hölle verloren. Adele war damals 22 Jahre alt, Aimee ein Jahr jünger. Ihr Vater war Brite, die Mutter Türkin, die Schwestern hatten eine glückliche, verspielte, quecksilbrige Kindheit und Jugend in Southhampton, sie liebten gemeinsame Videospiele. Aimee war kreativ, malte und tanzte, ging gern zu Popkonzerten und war der möglicherweise grösste Pharrell-Fan Grossbritanniens. Mit 18 ging sie allein für ein Jahr nach Japan und schlug sich als Putzkraft und Englischlehrerin durch. Adele war das Nerd-Girl, das – zum Glück nur kurz – in die Fänge von Anorexie-Plattformen geriet.

Dann kam Corona. Aimee verlor jeden Halt. Ihr ganzes gesellschaftliches Leben kam zum Stillstand, sie litt unter Depressionen und zog sich zurück. In ihr Zimmer. Ins Internet. In die Dunkelheit. Und sie verschwand. Nicht zum ersten Mal, sie hatte sich schon vorher immer wieder abgesetzt, hatte irgendwo irgendeines ihrer Projekte verfolgt und war zuverlässig zurückgekehrt. Im Oktober 2022 kam sie nicht mehr heim. Und es war die Polizei, die der Familie mitteilte, man habe sie tot in einem Hotelzimmer gefunden, wo sie 11 Tage in der Gesellschaft eines Amerikaners verbracht habe.

Adele und ihre Eltern erfahren erst nach und nach die Geschichte von Aimees Abschied. Erfahren, dass sie ein Suizidforum konsultiert hat. Aber nicht eines, das die Hilfesuchenden vom Suizid abhalten will, sondern eines, das ihren Todeswunsch unterstützt. Das praktische Tips gibt. Sie geradezu anfeuert. Die beiden Gründer der Seite arbeiten unter Pseudonymen. Die Spitzenreporterin Megan Twohey hat 2021 in «New York Times» bereits eine grosse Recherche darüber veröffentlicht, vergebens. Denn wird die Seite in einem Land verboten, ploppt sie in einem anderen wieder auf, die Gesetzeslage ist überall anders und überall schwach, für neue Phänomene müssen erst neue Gesetze installiert werden. Mittlerweile ist sie in Grossbritannien, vielen europäischen Ländern und der Schweiz blockiert, anderswo ist sie weiterhin zugänglich.

Doch die Suizidseite ist nur eine der Baustellen der beiden Betreiber: Vor allem widmen sich die zwei nämlich der Förderung der Incel-Kultur, wie die Jungjournalistin Adele Walton (sie schreibt u.a. für «Dazed» und den «Guardian») bald herausfindet. Sie haben ein Spinnennetz an Seiten aufgebaut, auf denen alleinstehende, Frauen hassende Männer darüber fantasieren, was man alles mit Frauen anstellen könnte, bis hin zu Mordszenarien. Und die Annahme liegt nahe, dass viele dieser Mordfantasien dann auf der Suizidseite «ausgelebt» werden. Etwa im hemmungslos praxisbezogenen Zuspruch, den man den Gefährdeten gibt, oft getarnt als Rat einer ebenfalls suizidgefährdeten Person.

Tummelt man sich mal versuchshalber auf einer ähnlichen Plattform wie jener, die Aimee auf dem Gewissen hat, so bestätigt sich dort für Wort, was Adele in «Logging Off» mit ungerührter Objektivität beschreibt: Den Gefährdeten wird weis gemacht, dass sie vollkommen allein sind, von Familie und Freunden verlassen; dass ein Aufschub der Selbsttötung nur die Verlängerung eines qualvollen, nicht mehr lebenswerten Lebens sei; Suizid wird sprachlich verharmlost, «catching the bus», den Bus erwischen, ist der gängige Ausdruck; Methoden der Selbsttötung werden offenherzig diskutiert.

Und immer wieder, das zeigt selbst das oberflächliche Vorbeischauen, werden geschickt misogyne und rassistische Narrative eingeflochten: Eine angeblich dicke, scheinbar weibliche Person schämt sich ihres Übergewichts so sehr, dass sie sich umbringen will; ein scheinbar muslimisches Mädchen fühlt sich von seiner Familie derart unterdrückt, dass es nicht mehr leben mag. Anderen Hilfesuchenden wird so suggeriert, dass die Übergewichtige und die Muslima kein lebenswertes Leben führen, rechte Incel-Weltbilder werden damit genüsslich befestigt.

Dass in dieser Parallelwelt der Weg zu Bezugsquellen von tödlichen Substanzen nicht mehr weit ist, liegt auf der Hand. Manchmal genügt eine Suche auf Amazon, wie Adele feststellt. Ihre Schwester geriet, wie so viele, an den Kanadier Kenneth Law, einen ehemaligen Koch, der beim Konservieren von Lebensmitteln über sein Lieblingsgift gestolpert war. Insgesamt soll er 1200 Giftlieferungen in die ganze Welt verschickt haben, gut 120 Menschen sind mit seinem Zutun gestorben, allein in Grossbritannien sollen es 88 sein. 2023 wurde er in Kanada verhaftet. Er war es, der Aimee das Gift und den «Sterbebegleiter» besorgte, der sich offenbar 11 Tage lang in einem Hotelzimmer am totalen geistigen und schliesslich auch physischen Zusammenbruch der 21-Jährigen delektierte. Der Begleiter wurde zwar strafrechtlich verfolgt, aber nicht verurteilt.

Adele Walton hat die letzten zwei Jahre nicht nur der Aufarbeitung des Todes ihrer Schwester gewidmet, Aimees Schicksal ist in ihrem Buch «Logging Off» bloss eine von vielen Fallen, die das digitale Zeitalter für unvorsichtige, verzweifelte oder auch ganz normal ahnungslose Menschen bereithält. Walton will dabei nicht das Internet abschalten, der Titel ist bloss metaphorisch gemeint, sie selbst ist eine viel zu versierte digitale Seefahrerin, um sich dies überhaupt noch vorstellen zu können.

Ihr Buch ist eine kluge Darstellung der immer wieder absolut menschenfeindlichen, mysoginen und rassistischen Verflechtungen von Big Tech. Sie beschreibt eine Welt restlos aller Möglichkeiten, die alle zum einzigen Ziel der Tech-Bros führen – zum materiellen Gewinn.

Walton seziert die Versprechen der Anbieter von sozialen Medien (Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten, Überwindung aller Grenzen) und schaut, was dabei wirklich herauskommt, nämlich eine algorithmisch gesteuerte Bildung von immer exklusiveren Blasen und Echokammern, die schliesslich in einer totalen Vereinzelung und nicht selten Radikalisierung der User mündet.

Sie zeigt anhand eines durchdigitalisierten Smarthouses, wie sich fast jedes Tool und jede App in Überwachungsapparatur umfunktionieren lassen. Und sie erzählt die Geschichte ihres guten Freundes Tony, eines britischen Rentners, der das Gegenteil, nämlich den totalen Ausschluss aus sozialen und administrativen Prozessen erlebte, weil er zu lange kein Smartphone besass.

Sie hat für ihr Buch mit Dutzenden von Menschen geredet, mit Hinterbliebenen von anderen Suizid-Opfern, mit Menschen, die Grooming (das digitale Zurichten besonders Minderjähriger durch Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeitsentzug und Erpressung) oder Doxxing (Telefonnummern und private Adressen werden in hassgesteuerten Kontexten geleakt) erlebt haben. Und mit vielen Menschen, die sich – wie sie selbst – zur Wehr setzen. Die auf die Strasse gehen, vor Gericht gehen, sich für striktere Gesetze und für mehr Schutz einsetzen. Nicht nur für Kinder, von denen zu Recht immer die Rede ist, sondern für alle.

Adele Walton ist erst 25, sie hat ein kühles, klares, fantastisch informatives Buch geschrieben und sie kämpft. Gegen Musk, gegen Zuckerberg, gegen Bezos. Und gegen Andrew Tate und seine Millionen von Anhängern, einer der jüngsten unter ihnen, dessen Geschichte sie erzählt, ist ein Achtjähriger, der Tates Videos lustig und seine Autos cool findet.

Die Lektüre von «Logging Off» wirft einen immer wieder in die schlimmsten «Black Mirror»-Spiralen, man verlöre den Glauben an die Menschen gründlich – wenn da nicht Adele Walton wäre, die ihn behalten hat. Weil sie in ihrem Kampf mit Gleichgesinnten schon ein paar kleinere Erfolge verbuchen konnte, und weil ihr Buch möglicherweise genau die Gebrauchsanleitung für ein nicht zerstörerisches digitales Leben ist, die wir schon immer nötig hatten.

Nur den Glauben an die Mächtigen, den hat sie über ihren Recherchen gründlich verloren, wie sie im «Guardian» erzählt. Einzig ein menschlicher Verlust wie der ihrer Schwester könne sie zur Einsicht bringen. «Die Mächtigen werden nur dann handeln, wenn sie spüren, wie sich dieser Kummer anfühlt. Ich würde das niemandem wünschen. Aber wenn Mark Zuckerberg etwa ein Kind durch digitale Gewalt verlieren würde, dann würde er sagen: ‹Oh mein Gott, ich muss aufwachen.›»

Adele Zeynep Walton: «Logging Off: The Human Cost of Our Digital World». Trapeze Verlag, London 2025. 253 S., ca. 24 Fr.

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Die beliebtesten Kommentare
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Hosesack
28.06.2025 20:59registriert August 2018
Was ist eine quecksilbrige Kindheit?
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wurzeli
28.06.2025 20:48registriert April 2020
Der Abschalt-Knopf ist bei diesen Digital-Dingern manchmal ganz hilfreich.
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Lushchicken
28.06.2025 22:32registriert Oktober 2014
Ich finde die Kommentare hier bedenklich. Es ist absolut richtig, dass die Person ihren Suizid selbst verursacht hat. Aber ist doch etwas erschreckend, dass es Foren gibt wo Personen dazu angestachelt und motiviert werden. Das ist doch ziemlich krank und zeigt tiefe Abgründe in unserer Gesellschaft auf. Und Plattformen, die solche Seiten Hosten sollten zur Verantwortung gezogen werden können.
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