Wir treffen Elisa Gasparin im Hotelrestaurant ihres Wohnorts Lenz. Sie bestellt eine Cola und sagt: «Eine Cola zu trinken, wäre damals für mich unmöglich gewesen». Also reden wir über «damals».
Warum machen Sie als routinierte Athletin beim Projekt «Fuel 2.0» zur Verbesserung des Essverhaltens mit?
Elisa Gasparin: Die Projektleitung hat von Anfang an betont, dass das Ziel nicht ist, mein Essverhalten gross zu verändern. In einer fortgeschrittenen Karriere macht das nicht mehr unbedingt Sinn, denn solche Massnahmen benötigen immer auch ihre Zeit, bis sie Wirkung zeigen. Ich mache mit, weil ich es eine coole Sache und inhaltlich sehr spannend finde. Der Körper wird beispielsweise im Ruhezustand und in den verschiedenen Trainingsintensitäten gemessen, um daraus zu erkennen, wie er funktioniert. Mit dieser Vorgehensweise kann man auf jeden Fall noch Dinge optimieren. Viel mehr als mit einer gewöhnlichen, auf Theorie basierenden Essberatung. Denn du siehst, wie viel dein Körper wirklich benötigt, um Spitzensport zu betreiben.
Was haben Sie durch das Projekt gelernt?
Ich mache mir im Moment enorm wenig Gedanken über das Essen. Das zeigt auch, dass ich gesund bin. Wenn ich intuitiv richtig esse, dann ist das ein Beleg dafür, dass es passt.
In welcher Weise ist Essen in Ihrem Leben als Spitzensportlerin ein Thema?
Nahrung ist unser Benzin. Wenn man diese Energiezufuhr richtig macht, kann man einen kleinen Prozentsatz an zusätzlicher Leistung herausholen. Aber es gibt so viele verschiedene Theorien über die richtige Nahrung. Es ist wie bei den Trainingsphilosophien: Du weisst nicht, welche die richtige ist. Du musst dich bei dem, was du machst, einfach wohlfühlen. Aus meiner Sicht sind zwei Dinge relevant: Genug essen und ausgewogen – also normal. Letztlich sind das Training und der Kopf die wichtigsten Faktoren für die Leistung. Essen ist wie ein zusätzlicher Baustein. Dieser muss primär langfristig stimmen, vor allem, wenn man sehr viel trainiert. Kurzfristig überlebt man als Athletin auch eine Rennwoche in einem Hotel mit schlechtem Essen. Der Körper kann sehr unkompliziert sein, solange er etwas kriegt. Ich glaube, du kannst einen Tag lang nur Snickers essen und danach ein Rennen gewinnen (lacht).
Aber manchmal wird das Essverhalten für den Kopf zum Problem!
Es ist genauso! Gefährlich ist dies vor allem in jungen Jahren, so zwischen 16 und 22. Dort ist das Essverhalten ein sehr schmaler Grat. Du bist in der Pubertät, der Körper verändert sich. Gleichzeitig siehst du auf Social Media Athletinnen mit austrainierten Körpern und Six-Packs, die dafür aber 15 Jahre lang knallhart trainiert haben. Und du denkst: Wieso sehe ich nicht so aus? Vielleicht muss ich etwas weniger essen, damit ich meine Fettpölsterchen loswerde. Dabei ist das in diesem Alter völlig normal. Man braucht diese Energiereserven sogar, um später einen solch grossen Trainingsumfang zu bewältigen. Diese Zusammenhänge müssen Athletinnen und Athleten erkennen und begreifen lernen. Auch Trainer müssten diesbezüglich noch mehr sensibilisiert werden. Ich denke da an faule Sprüche, die gerade für junge Athletinnen sehr verletzend sein können. Auf diese Weise kann das Essverhalten innerhalb einer Woche ins Negative kippen.
Sie haben das selbst erfahren, litten an Magersucht. Wie alt waren Sie damals?
Es begann 2013, ich war damals 22 Jahre alt.
Wieso gerieten Sie in eine Essstörung?
Die Olympischen Spiele in Sotschi standen vor der Tür. Uns wurde gesagt, die Strecke sei unglaublich streng, es gehe gefühlt immer nur bergauf. Kurzfristig ist man bergauf schneller, je leichter man ist. Es war damals eine Zeit, wo die allermeisten Konkurrentinnen in meinem Alter irgendwann eine Pause einlegen mussten, weil sie zu dünn waren. Es gab sich eine ungesunde Dynamik in diese Richtung. Auch bei uns im Team war es eine Zeitlang richtig schlimm. Wir blickten gegenseitig auf unsere Teller: Wer isst wann, was und wie viel? Quasi ein Wettbewerb, dass ich weniger auf dem Teller habe als du.
Ein ziemlich ungesunder Wettkampf!
Man steigert sich immer mehr hinein. Irgendwann beginnt es in deinem Kopf 24 Stunden am Tag präsent zu sein. Du denkst den ganzen Tag nur an das Thema essen – immer mit dem Ziel, noch mehr zu minimieren. Hunger war damals mein grösster Feind. Wenn ich im Training Hunger kriegte, dachte ich, eigentlich müsste ich jetzt essen, aber ich will nicht. Erst später lernte ich, dass der Hunger dein grösster Freund ist.
Wie entwickelte sich diese Essstörung?
Irgendwann hatte ich gar kein Hungergefühl mehr. Ich war weder satt noch hungrig – egal, wie viel ich gegessen hatte. Das ist eigentlich ziemlich krass.
In der Anfangsphase einer Anorexie wird man ja wahrscheinlich im Sport noch dafür belohnt – indem man bessere Leistungen erbringt!
Ja, klar! An den Olympischen Spielen von Sotschi gewann ich vollkommen unerwartet ein Diplom. Ich lief zuvor nie in die Top 20. Und im Winter darauf zeigte ich die beste Saison meiner Karriere.
Wie reagiert der Kopf auf diesen Widerspruch?
Ich wusste, dass ich zu dünn bin. Ich wusste, dass so etwas auch ganz schlimm enden kann. Aber ich dachte mir, mich erwischt es nicht, ich habe es ja irgendwie im Griff. Das ist die Fehleinschätzung, die wohl viele betroffene Frauen machen.
Fühlt man sich dabei schlecht oder sogar krank?
Nein, ein solches Gefühl hatte ich damals nicht. Es ist mehr ein Thema der Kontrolle. Ich hatte das Gefühl, ich könne es kontrollieren, weil ich ja selbst entscheiden kann, was ich esse. Das wirkte irgendwie beruhigend.
Aber es ist ein Irrglaube?
Ja, man hat lediglich das Gefühl, dass es ein Gefühl von Kontrolle ist. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Die Situation ist völlig ausser Kontrolle geraten.
Wann wog die sportliche Belohnung das persönliche Leiden nicht mehr auf?
Grundsätzlich ist es möglich, für einen Grossanlass bewusst zwei, drei Kilo abzunehmen. Aber dafür muss man sich einen Plan machen, der auch beinhaltet, dass man danach wieder mehr isst. Diesen Plan hatte ich nicht. Ich zog mein Hungern beinahe zwei Jahre lang durch. Der Körper machte es mit – sogar sehr gut mit. Irgendwann veränderte sich dadurch meine persönliche Wahrnehmung.
In welcher Weise?
Ich hatte das Gefühl, mein Körper sehe im Spiegel normal aus. Wenn ich heute aber Fotos von damals betrachte, haut es mich beinahe aus den Socken. Ich war nur noch ein Stecken.
Wann kam das Stopp-Signal?
Ich begann zu merken, dass mir die Energie fürs Training fehlt. Im Herbst 2015 war ich mit meinen Schwestern und unserem Privattrainer in Kroatien im Trainingslager. Ich war unglaublich müde. Der Trainer befahl mir, einfach mal vier Tage gar nichts zu machen, ausser mich auszuruhen. Auch danach war ich vollkommen ausgelaugt. Ich brach das Trainingslager ab und blieb zuhause zwei Wochen im Bett. Ich brauchte eine Stunde, um überhaupt genügend Energie zu finden, es ins Badezimmer zu schaffen. Da wurde mir bewusst, dass es mich doch «erwischt» hat, dass ich einen Scheiss gemacht habe.
Aber Sie starteten trotzdem in die Saison?
Ja. Ich habe nach diesem Zusammenbruch gemeinsam mit dem Arzt einen Trainingsplan gemacht und dabei anfänglich lediglich jeden zweiten Tag 20 Minuten trainiert. Die WM war in jenem Winter erst im März. Ich dachte mir, bis dahin schaffe ich wieder den Anschluss. Aber nach drei, vier Rennen musste ich mir eingestehen, dass es eben nicht geht. Ich brach die Saison ab! Im Nachhinein hätte ich mir gewünscht, dass man von Seiten Verband rascher auf meine Entwicklung reagiert hätte. Das müsste passieren, sobald die ersten Anzeichen da sind, dass etwas nicht stimmt. So wie in Skandinavien, wo Athletinnen aus den Rennen und aus dem Trainingsbetrieb genommen werden und erst wieder mittun dürfen, wenn sie gesund sind. Das mag zwar einschneidend sein, aber im Spitzensport ist Professionalität gefragt. Du musst alles geben, nicht nur beim Training, sondern auch, indem du dich anständig ernährst.
Wie kamen Sie aus der Sucht heraus?
Ich habe mir keine Hilfe genommen. Ich ging nach dem Abbruch der Saison im Februar in ein Reisebüro und sagte, ich wolle irgendwo an Meer, wo es warm ist und wo es viele Leute hat. Ich reiste also nach Cancun in Mexiko und setzte mir das Ziel, in einem Monat so viel Gewicht zuzulegen wie nur möglich, so dass ich nach meiner Rückkehr normal aussehe. Es wurde mir in jenem Winter bewusst, dass meine gesamte Karriere davon abhängt.
Tönt nicht gerade nach dem Vorgehen aus einem Therapiebuch gegen Essstörungen!
Entweder war ich nicht so krass von dieser Krankheit befallen, dass ich es selbst gecheckt habe. Oder ich bin einfach unglaublich gut (lacht laut).
War das wirklich nachhaltig?
Für mich hat es gestimmt. Ich nahm mich komplett aus meinem normalen Umfeld raus. In Mexiko habe ich auch realisiert, in was für einer Blase ich eigentlich lebe. Und in Cancun war diese Blase auf einmal so nutz- und sinnlos. Kein Mensch dort weiss auch nur irgendetwas über Biathlon. Wieso soll ich etwas tun, das dir nur in dieser Blase helfen mag. Diese Erkenntnis hat mir enorm gutgetan. Dieser Monat war wohl eine der geilsten Zeiten meines Lebens. Und ich habe es geschafft!
Spielend einfach?
Nicht von einem Tag auf den andern. Ich musste mich zwischendurch schon mal im Restaurant zwingen, den ganzen Teller auszuessen. Ich sass dafür manchmal mehr als zwei Stunden lang am Tisch vor meinem Teller.
Und wie verlief die Rückkehr in den Alltag der Spitzensport-Blase?
Mir war bewusst, dass es eine Herausforderung ist. Aber ich kam zurück und erhielt ausschliesslich Komplimente. Meine Schwester Selina sagte, ich würde um Welten fitter aussehen. Ich sah endlich wieder gesund aus. Aber natürlich musste ich dranbleiben. Ich wusste ja, dass ich zuvor etwas falsch gemacht hatte. Ich wollte wissen, wie ich es denn richtig machen muss. Wer das in dieser Situation nicht macht, ist wirklich dumm…oder sehr krank.
Was haben Sie konkret gemacht?
Ich ging nach meiner Rückkehr zu «erbse», einem Institut für Ernährungsdiagnostik in Winterthur. Dort habe ich einen Test auf dem Velo gemacht und nach einer knappen halben Stunde sagte man mir, dass ich jetzt gerade einen ganzen Teller Pasta verbrannt hätte. Ich habe zum ersten Mal begriffen, was es für den Körper heisst, Spitzensport zu betreiben und wieso der Körper mit drei, vier Kilo mehr Gewicht eine bessere Leistung erbringen kann.
Und offenbar war Ihr Weg auch langfristig erfolgreich?
Ich habe es innerhalb von wenigen Monaten geschafft, vom Zustand, wo ich 24 Stunden nur ans Essen dachte, in einen Alltag zu kommen, wo ich am Abend nicht mehr weiss, was ich am Morgen gegessen habe. Ich habe gelernt, wie ich meinen Ofen wieder zum Laufen bringe. Heute kriege ich enorm schnell Hunger, muss fast alle zwei, drei Stunden etwas essen für meinen Energiehaushalt. Ich fetze mir im Winter Shakes mit 500 Kalorien rein, weil ich nicht nachkomme mit Essen. Ich habe mir früher immer gewünscht, so essen zu können (lacht). Aber wirklich angenehm ist das auch nicht.
Aber es tönt irgendwie normal – jedoch wohl nicht typisch für eine Ausdauersportlerin?
Das denke ich auch. Heute spielt es für mich keine Rolle, was es zum Nachtessen gibt. Und ich habe keine Gelüste mehr. Essen ist eine Normalität. Vielleicht mag man sagen, ich hätte meine Essstörung schlicht verdrängt. Ich weiss es nicht, aber es ist mir – entschuldigen Sie den Begriff – schlicht scheissegal.
Sind Sie stolz auf Ihren Weg?
Ja, sehr! Auch wenn ich mit anderen Betroffenen spreche. Die brauchten alle Hilfe und es dauerte lang, bis sie die Krankheit überwunden hatten. Ihr Weg war auch gespickt mit Rückfällen.
Werden Essstörungen heute besser thematisiert als vor zehn Jahren?
Ja, ich denke schon. Das Know-how zum Thema Ernährung ist auch viel grösser. Und im Biathlon geht der Trend eher hin in Richtung kräftige Athletinnen. Ich sehe auch, dass die jungen Athletinnen viel professioneller sind. Das Thema wird viel früher in einer Karriere angegangen. Aber klar ist auch, dass Essstörungen immer ein Thema im Spitzensport bleiben werden.
Können Sie mit Ihrer persönlichen Erfahrung anderen helfen?
Es ist schön, dass es heutzutage in der Gesellschaft viel weniger Tabuthemen gibt. Auch im Sport ist es keine Schande mehr, wenn eine Person sagt, sie habe eine andere sexuelle Orientierung, eine Essstörung oder gerade ihre Periode. Dieses Umfeld macht es einfacher, sich auch zu öffnen. Ich nehme mir immer Zeit, wenn mich jemand um Rat bittet. Eine Karriere im Spitzensport ist so kurz. Wenn man durch eine Essstörung noch zwei, drei Jahre davon verliert, dann zerstört man einen Viertel seiner Zeit. Das lohnt sich schlicht nicht!
(aargauerzeitung.ch)
Ganz viel Erfolg für die Zukunft. 💪🏼