Kult-Trainer Hanspeter Latour: «Im Fussball muss man ein Spinncheib sein»
Er wartet neben dem Auto auf dem Parkplatz des Bahnhofs von Thun und entschuldigt sich dafür, dass er nicht bis zum Perron gekommen ist. Früher hätte man die Parkuhr mit Münzen füttern können. Das gehe jetzt nicht mehr. Deshalb bleibe er jeweils beim Auto stehen, wenn er jemanden vom Bahnhof abhole. Hanspeter Latour ist schon in Fahrt, bevor das Interview angefangen hat.
Wann sind Sie letztmals durch eine Autowaschanlage gelaufen?
Hanspeter Latour: Das sind etwas über 20 Jahre her. Wobei, einmal habe ich es danach nochmals gemacht.
Bei welcher Gelegenheit?
Das war bei einem Dreh für den «Donnschtig-Jass». Ich weiss aber, worauf Sie hinauswollen.
Angefangen hat es, als Sie nach einer Niederlage die Spieler des FC Thun beim Auslaufen durch eine laufende Autowaschanlage geschickt haben?
Das stimmt. Wir haben richtig schlecht gespielt. Die Stimmung war an einem Tiefpunkt. Da kam mir der Geistesblitz: Statt eine lange Videoanalyse zu machen, «secklen» wir durch die Autowaschanlage, um alles abzuwaschen. Prompt haben wir die nächsten vier Partien gewonnen.
Warum haben Sie das mit der Autowaschanlage nur in Thun gemacht?
Solche Dinge lassen sich nicht so einfach kopieren. Ausserdem war es ein Bauchentscheid. Stellen Sie sich vor, wir hätten nach dem ersten Mal in der Autowaschanlage vier Mal verloren statt gewonnen. Dann wäre ich definitiv der «Spinncheib» gewesen.
Hatten Sie je Angst, als Spinncheib zu abgestempelt zu werden?
Nein. Und wenn schon? Als ich Thun 2001 übernahm, entging der Klub knapp dem Abstieg in die 1. Liga. Es gab zwar finanzielle Probleme, aber ich kam, weil ich diesen Bubentraum hatte: Mit Thun in der Nati A zu spielen. Als Thun in der Saison 54/55 zum einzigen Mal in der Nati A spielte, war ich ein 7-jähriger Ballbub.
Aber als Spieler erlebten Sie die Nati A nur bei YB.
Richtig. Also musste ich es als Trainer schaffen. Als ich in Thun übernahm, sagte ich vor der Mannschaft: ‹Ich will in die Nati A›. Aber damit nicht genug. Ich zeichnete ein Flugzeug und sagte: ‹Ich will auch ins internationale Geschäft›. Im Fussball muss man ein «Spinncheib» sein. Und vor allem darf man keine Angst davor haben, als solcher zu gelten.
Kam das gut an?
Nicht überall. Mit dem Vorstand hatte ich wegen meiner Ambitionen gewaltige Diskussionen. Man mahnte mich mehrmals zur Zurückhaltung. Aber die von mir ausgerufenen Ziele, Aufstieg und Europacup, haben wir erreicht. Wissen Sie, es gibt drei Ereignisse in meinem Leben, die über allen anderen stehen.
Welche?
Der Tod meiner Eltern, die Geburt der Kinder und der Aufstieg mit dem FC Thun.
Ein Spinncheib waren Sie schon, als Sie Ende der 80er Ihre Bundesstelle aufgegeben und entschieden haben, beim 1.-Liga-Klub Solothurn als Profitrainer zu arbeiten, wo Sie doch eine vierköpfige Familie zu ernähren hatten.
Sechs Jahre lang bin ich von Thun nach Solothurn gependelt. Da kam ich an den Punkt: Es geht so nicht weiter. Doch sie wollten mich unbedingt halten. Also boten Sie mir an, mich voll anzustellen. Sie sagten: ‹Ihre Leidenschaft ist doch nicht der Laboranten-Job, sondern der Fussball.› Ich sagte: ‹Schon, aber das Brot kommt von einem anderen Ort.› Also boten sie mir den gleichen Lohn an, den ich bei der Gruppe für Rüstungsdienste hatte.
Sagten Sie gleich zu?
Es hat mich gereizt. Aber ich dachte, ich müsste erst den richtigen Moment bei Thilde, meiner Frau, abwarten.
Wann kam der richtige Moment?
Gleich an jenem Abend. Ich erzählte ihr, was mir angeboten wurde und sie sagte: ‹Ich kenne dich, also mach es.› So zogen wir nach Solothurn. Und zum Glück kam es gut, konnte ich 20 Jahre lang vom Trainerjob leben. Fleiss, Mut und Glück – damit kann man es im Fussball weit bringen.
Nachdem Sie 2004 mit dem kleinen FC Thun den FC Basel bezwungen haben, verteilten Sie im Berner Oberland Läckerli. Hat man Ihnen die Geschichte in Basel nie übelgenommen?
Sie glauben nicht, was ich für Mails erhalten habe.
Böse?
Nein, im Gegenteil. An der darauffolgenden Fasnacht sah ich sogar einen Wagen mit dem Sujet unserer Läckerli-Aktion. In Basel haben sie halt den richtigen Humor.
Was war der Auslöser für die Läckerli-Aktion?
Wir lagen nur einen Punkt hinter Leader Basel. Mit einem Sieg würden wir erstmals in der 100-jährigen Klubgeschichte vor Basel platziert sein. Das müsste man doch feiern, dachte ich. Also sagte ich an der Pressekonferenz vor dem Spiel: ‹Wenn diese Partie gegen Basel nicht ausverkauft ist, wird das Stadion nie mehr voll sein.›
Und dann?
Fragte mich ein Journalist: Was machen Sie, wenn das Stadion ausverkauft ist? Ich war nicht darauf vorbereitet und sagte: ‹Ausverkauft allein reicht nicht. Aber wenn es ausverkauft ist und wir auch noch gewinnen, verteile ich mit der Mannschaft am nächsten Tag im ganzen Berner Oberland Basler Läckerli›.
Wie sind Sie an die Läckerli gekommen?
Nach der Pressekonferenz war mir sofort klar, dass ich schnell handeln muss. Ich rief beim Läckerli-Haus an und fragte: ‹Können sie 20'000 Läckerli zu uns nach Thun schicken, wenn wir das Spiel gegen Basel gewinnen?›
Das Spiel musste Thun ja gewinnen.
Und wie: 4:1 gegen ein grosses Basel mit Rossi, Yakin, Gimenez, Zuberbühler und wie sie alle hiessen.
Und Sie bezwangen mit Christian Gross Ihren ehemaligen Chef.
Ja, ja, das wissen Sie. Nach dem Spiel rannten die Spieler nicht wie üblich zu den Fans, sondern alle auf mich zu und riefen: ‹Herr Latour, die Läckerli nicht vergessen.› Ich erwiderte: ‹Morgen um 8 Uhr im Stadion.› Daraufhin zeichnete ich Pläne. Vier Spieler in jenes Tal, vier Spieler in das andere Tal. Und ich gab ihnen einen Zettel mit, den sie auf der Gemeinde stempeln lassen sollen. Heute liefe das vielleicht unter unbewilligter Demonstration. Selbst das Schweizer Fernsehen machte eine Reportage daraus.
Wer hat die Läckerli bezahlt?
Eigentlich sollte die Rechnung an mich gehen. Aber das Läckerli-Haus hat alles übernommen. Sie teilten mir mit, dass dies die PR-Aktion des Jahres gewesen sei.
Eine typische Latour-Aktion?
Wahrscheinlich. Ich war lange in der Trainerausbildung tätig. Als Roy Hodgson Nationaltrainer wurde und mit seinem 4-4-2 Erfolg hatte, spielte jede Bar-Mannschaft dieses System. Uns Instruktoren wurde gesagt, wie wir zu lehren hätten. Nichts gegen dieses System: Aber Kreativität und Flexibilität waren nicht mehr gefragt. Doch Fussball ist nicht Schema X. Also hörte ich auf, Trainer auszubilden. Eine Geschichte noch.
Bitte.
Mit Thun spielten wir mal im UI-Cup gegen Wolfsburg. Als wir am Tag vor dem Spiel im Stadion trainierten, spürte ich, wie beeindruckt meine Spieler von der Arena waren. Ich dachte: Diese «Höseler». Also beraumte ich für den Abend eine kurze Sitzung an, weil ich befürchtete, dass es nicht gut ausgehen wird.
Sie wollten den Spielern die Angst nehmen?
So ungefähr. Vor der Sitzung entdeckte ich in einem Laden wunderbare Kaninchenfelle. Wolfsburg, Wolf, Fell. Ich kaufte es. Am Abend sagte ich zur Mannschaft: ‹Das Stadion ist schon recht. Aber wenn der Schiedsrichter anpfeift, spielt das Stadion keine Rolle mehr. Wir können etwas, sonst wären wir nicht hier. Aber wir können die nur schlagen, wenn wir an uns glauben. Die denken, sie könnten uns das Fell über die Ohren ziehen. Schaut dieses Kaninchenfell an. Das hänge ich morgen in der Garderobe auf. Ich will das mit nach Thun nehmen, aber das geht nur, wenn wir gewinnen.› Vielleicht war das alles Blödsinn. Entscheidend in solchen Momenten ist aber, dass die Spieler den vollumfänglichen Glauben des Chefs spüren. Und das habe ich signalisiert. Wir siegten übrigens 3:2.
Was für ein Ende.
Die Geschichte geht weiter. Zu Jahresbeginn 2005 wurde ich von Bundespräsident Samuel Schmid gebeten, eine Motivationsrede vor dem VBS-Kader zu halten. Einen Wimpel von Thun konnte ich nicht mitbringen, weil mein Wechsel zu GC schon feststand. Und an einem GC-Wimpel hätte der Berner Schmid wohl keine Freude gehabt. Da erinnerte ich mich an das Kaninchenfell aus Wolfsburg.
Und dann?
Ich sagte: ‹Herr Bundespräsident, ich weiss, dass sie auch gegen Gegner kämpfen, die ihnen das Fell über die Ohren ziehen wollen.› Die Divisionäre sind schier ausgeflippt. Hätte die Verkäuferin in Wolfsburg gewusst, dass das Kaninchenfell je beim Schweizer Bundespräsidenten landen würde... Ich musste stets kreativ sein, weil ich bei meinen Klubs aus wenig möglichst viel machen musste.
Sie waren aber auch beim noblen GC.
Nur war das GC zu meiner Zeit nicht mehr so nobel. In meiner ersten Woche wurde die Mannschaft auf den Titlis eingeladen. Kaum waren wir oben, erhielt ich einen Anruf. Ich müsse sofort wieder runter vom Berg und nach Zürich kommen. Dort wurde mir von der Klubführung mitgeteilt: ‹Ab sofort 20 Prozent weniger Lohn für alle.› Das war kein einfacher Start.
Nach GC wechselten Sie zu Köln. Nach weniger als einem Jahr wurden Sie entlassen. Warum hat es dort nicht funktioniert?
Das bedauere ich noch heute. Etwas Schöneres als Köln kann man sich kaum vorstellen. Die sind absolut verrückt nach Fussball. Viele sagen: Köln sei die nördlichste Stadt Italiens. Ich habe mein Bestmögliches gegeben. Aber leider konnte ich die Chance nicht nutzen.
In Ihrer Mannschaft spielte auch Lukas Podolski. Der beste Spieler, den Sie je trainiert haben?
Sicher der bekannteste. Als ich kam, war Podolski im Loch. In einem Interview sagte er später, ich hätte ihm die Freude am Fussball zurückgegeben. Das hat mich gefreut. Als wir abgestiegen waren, wechselte er im Sommer 2006 zu Bayern. Nach einem hervorragenden Start in der 2. Liga fiel dann leider mit Patrick Helmes unser Unterschiedsspieler aus. Das konnte ich nicht kompensieren. Und als der Rückstand auf einen Aufstiegsplatz fünf Punkte betrug, wurde ich freigestellt.
Trotzdem leiteten Sie danach noch ein Training.
Warum auch nicht? Mir war schon vorher klar, dass ich entlassen würde, wenn wir gegen Aue nicht gewinnen. Ausserdem lief alles sehr sauber ab in Köln. Ich brauchte nicht mal einen Anwalt. Noch heute ruft mich der damalige Präsident Wolfgang Overath zum Geburtstag an. Und auch zum Karneval wurde ich immer wieder mal eingeladen. Das ist Köln.
Spätestens 2002 wurden Sie Kult mit dem Spruch: «Das isch nid normau, Herr Meier! Dä grännet jedes Mau!». Mal ehrlich: Den Schiedsrichter haben Sie doch nur mit «Herr» angesprochen, weil das Fernsehen eine Reportage mit Ihnen gedreht hat?
Nein. Regula Späni, die Macherin des Films, war schon weg. Ich dachte, das Ding ist gelaufen. Unser Verteidiger Deumi ging ziemlich hart zur Sache gegen Obradovic. Ich versuchte lediglich, den Schiedsrichter dahingehend zu beeinflussen, auf eine Verwarnung zu verzichten. Dass ich noch heute auf dieses Zitat angesprochen werde, stört mich überhaupt nicht.
Ab diesem Zeitpunkt waren Sie auch ausserhalb von Thun ein Held.
Ach, diese Heroisierung geht mir gegen den Strich. Je länger ich in Thun war, desto weniger ging es um die Sache, sondern um mich.
Spürten Sie Neid?
Ja, und Eifersüchteleien. Aber darauf will ich nicht weiter eingehen. Ich musste nicht lange überlegen, als Ende 2004 das Angebot von GC kam. Es war Zeit, zu gehen.
Sie trafen sich zu Verhandlungen meist auf halbem Weg. Ausser, als ausgerechnet der FC Köln sich gemeldet hatte.
Als Trainer hatte ich nur in der Winterpause die Möglichkeit, mit der Familie in die Ferien zu fahren. Am liebsten reiste ich jeweils nach London.
Wieso?
Weil man Fussball gucken oder auch mal ein Musical besuchen konnte. Es bot für alle etwas. Mal gingen wir aber auch nach Rom und die Kinder behaupten heute noch, ich sei in der Oper eingeschlafen. Das stimmt gar nicht. Es gibt Menschen, die sich mit geschlossenen Augen besser konzentrieren können.
Aber als Köln-Manager Meier sich bei Ihnen gemeldet hat, waren Sie in Prag.
Stimmt. Im ersten Moment dachte ich, er interessiere sich für einen Spieler von GC. Er sagte, sie suchten einen Trainer. Und sie wären interessiert an mir. Ich sagte: ‹Herr Meier, das ehrt mich sehr, aber das sind die einzigen Tage im Jahr, die ich mit der Familie verbringen kann›.
Also flog er nach Prag?
Ja. Zwei Stunden haben wir am Flughafen geredet. Zwei Tage später rief er mich an, ich müsste mich dem Vorstand vorstellen. Und am Tag darauf erhielt ich den Anruf, ich könne sofort in Köln starten.
In Köln wurden Sie «Bergdoktor» genannt. Hat Sie das gestört?
Gar nicht. Ich dachte, es gibt Schlimmeres. Wissen Sie, wie es dazu gekommen ist?
Nein.
An der ersten Presskonferenz sagte ich: ‹Mit einer Mannschaft, in der jeder ein Gesicht macht, als sei er krank, kann ich nichts ausrichten. Ich will Freude und Begeisterung spüren›. Deshalb haben sie mich in der Presse Bergdoktor genannt.
Und später wurden Sie in Köln gefeiert, als Sie einen Dieb gestellt haben.
Das stimmt nicht ganz. Als ich eines Montags zum Friseur fuhr, sah ich aus dem Augenwinkel, wie etwa 30 Meter von mir entfernt ein Mann einer Frau die Handtasche entreisst. Ich rannte ihm hinterher und rief: Haltet den Dieb! Ich dachte, ich würde ihn einholen. Aber der Typ war gut in Form, ich kam kaum näher. Trotzdem bekam er Schiss und warf die Tasche mit 2000 Euro drin weg. Als ich zurückkam, war schon die Polizei da. Ich sagte: ‹Ich bin nicht Wilhelm Tell, ich habe einen Termin beim Friseur, auf Wiedersehen›.
Aber so einfach kamen Sie nicht davon.
Nein. Wenig später rief mich der Pressechef des Klubs an und fragte, was denn da los gewesen sei? Die Journalisten würden ihn belagern. Doch ich wollte keine grosse Geschichte daraus machen. Also einigten wir uns darauf, dass ich an diesem Tag nicht auf der Geschäftsstelle erscheinen werde.
Trotzdem kam die Geschichte raus.
Weil die Polizei nicht dicht hielt.
Mit der Polizei hatten Sie wenig später auch in der Schweiz zu tun.
Was meinen Sie?
Als Sie Pedro Lenz mal nach Hause gefahren haben, landeten Sie in einer Verkehrskontrolle, wobei es zu einem Disput gekommen ist.
Stimmt. Ich war zwar in Köln schon entlassen, fuhr aber noch immer mit dem Auto rum, das mir der Klub zur Verfügung gestellt hat.
Was hat Sie enerviert?
Der Polizist grüsste nicht, sondern forderte in forschem Ton die Dokumente. Ich sagte: ‹Das geht so nicht. Erst mal sagt man guten Abend und bitte. Schliesslich findet Monate später hier in Bern die Fussball-EM statt. Und ihr Polizisten gehört zu den wichtigsten Botschaftern.› Meiner Frau war das gar nicht recht. Aber wenn jemand unanständig ist, habe ich ein grosses Problem.
Etwas müssen wir noch klären: Stimmt es, dass Sie nach der Entlassung in Köln in ein Frauenkloster geflüchtet sind?
Der Vizepräsident in Köln war Chef der Firma Klosterfrau. Mit ihm kam ich sehr gut aus. Als er fragte, ob ich mal einen Vortrag vor den Kadermitarbeitern seiner Firma halten könne, sagte ich zu. Der Termin wurde weit im Voraus abgemacht. Und er fiel genau auf jenen Tag, an dem ich freigestellt wurde. Der Vizepräsident wollte mich entschuldigen. Aber ich entgegnete: abgemacht ist abgemacht. Also hielt ich diesen Vortrag. Das hat sich rumgesprochen. Leider so, dass es in den Zeitungen hiess: Latour flüchtet nach seiner Entlassung in ein Frauenkloster. (aargauerzeitung.ch)