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Was im Nachwuchs-Sport falsch läuft – und was Eltern damit zu tun haben

Zu früh und zu viel: Die aktuellen Fördermethoden für Nachwuchstalente schaden den Kindern gemäss einer Studie.
Zu früh und zu viel: Die aktuellen Fördermethoden für Nachwuchstalente schaden den Kindern gemäss einer Studie.Bild: Shutterstock

Was im Nachwuchs-Sport falsch läuft – und was die Eltern damit zu tun haben

Schon sehr früh wird in vielen Sportarten auf die Talentförderung gesetzt, in der Hoffnung, möglichst erfolgreiche Athletinnen und Athleten zu formen. Eine neue Studie stellt diesen Ansatz jedoch als völlig falsch heraus. Was sich ändern muss.
26.10.2023, 14:4226.10.2023, 15:06
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Immer früher versuchen Verantwortliche in den verschiedensten Sportarten, Talente zu entdecken und diese möglichst stark zu fördern. Schliesslich möchte jeder Verein den nächsten Roger Federer oder Marco Odermatt hervorbringen. Nur könnte dieser Ansatz der völlig falsche sein. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie einer Gruppe von Sportwissenschaftlern aus Deutschland, Österreich und den USA.

Was war das Ziel der Studie?

Anhand der Studie sollte herausgefunden werden, inwiefern Erfolg im Spitzensport auf Erfolg bei den Junioren in derselben Sportart aufbaut. Das Forschungsteam aus Arne Güllich, Michael Barth, Brooke Macnamara und David Hambrick fokussierte sich dabei vor allem auf die Beantwortung der folgenden drei Fragen:

  1. Wie viele Junioren-Sportler erreichen das gleiche Wettkampflevel bei den Erwachsenen?
  2. Wie viele Erwachsenen-Sportler erreichten dasselbe Wettkampflevel bereits bei den Junioren?
  3. Inwiefern decken sich die erfolgreichen Junioren-Sportler mit den erfolgreichen Erwachsenen-Sportlern?

Wie wurde untersucht?

Das Forschungsteam stützte sich auf verschiedene Datensätze, die insgesamt über 38'000 Junioren-Sportler und knapp 23'000 Erwachsenen-Sportlerinnen umfassten. Davon waren jeweils rund 60 Prozent männlich und 40 Prozent weiblich. Bei den Junioren-Sportlern wurde analysiert, ob sie dasselbe Wettkampflevel später auch im Spitzensport erreicht haben. Bei den Erwachsenen wurde umgekehrt geprüft, ob sie dieses Niveau schon als Juniorinnen geschafft haben. Die drei untersuchten Wettkampflevel waren folgende:

  1. Teilnahme an nationalen Meisterschaften
  2. Teilnahme an internationalen Meisterschaften
  3. Gewinn von Medaillen an internationalen Wettbewerben
Roger Federer ist ein Beispiel für einen Sportler, der sowohl als Junior als auch als Erwachsener sehr erfolgreich war.
Roger Federer ist ein Beispiel für einen Sportler, der sowohl als Junior als auch als Erwachsener sehr erfolgreich war.Bild: KEYSTONE

Bei einem Grossteil der untersuchten Personen handelt es sich um Einzelsportlerinnen und -sportler, vor allem Leichtathletinnen, Schwimmer und Tennisspielerinnen. Bei den Teamsportlern waren es hauptsächlich Fussballerinnen und Rugby-Spieler. Die Juniorinnen und Junioren wurden zudem in vier Stufen eingeteilt, wobei die Stufe A die jeweils älteste Kategorie war (meist 17 bis 18 oder 18 bis 19 Jahre alt) und die Stufe D die jeweils jüngste Kategorie mit internationalen Wettbewerben (meist 11 bis 12 oder 12 bis 13 Jahre alt).

Was sind die Ergebnisse?

Die Studie kommt zum Schluss, dass nur wenige Junioren-Sportler später auch im Spitzensport dasselbe Niveau erreichen. Von den U17- und U18-Junioren auf internationaler Stufe erreichten 89,2 Prozent später nicht das internationale Level, während umgekehrt nur 18 Prozent der Erwachsenen-Sportler bei internationalen Wettbewerben diese Stufe bereits bei den Juniorinnen erreicht haben.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die erfolgreichen Junioren-Sportler und die erfolgreichen Erwachsenen-Sportlerinnen grösstenteils zwei völlig unterschiedliche Populationen sind – es gibt nur eine Überschneidung von 7,2 Prozent. Gerade auf dem höchsten Wettkampflevel und bei den jüngsten Junioren ist die Überschneidung sehr klein.

In der Grafik ist ersichtlich, (a) wie viele Junioren von den verschiedenen Stufen und Wettkampflevels später selbst auf mindestens dasselbe Level gekommen sind, und (b) wie viele Erwachsene früher au ...
In der Grafik ist ersichtlich, (a) wie viele Junioren von den verschiedenen Stufen und Wettkampflevels später selbst auf mindestens dasselbe Level gekommen sind, und (b) wie viele Erwachsene früher auch in den verschiedenen Juniorinnen-Stufen auf demselben Wettkampflevel waren.Bild: springer science+business media

Eine Ausnahme bilden die Erwachsenen, die an nationalen Meisterschaften teilgenommen haben. 60 Prozent davon waren bereits auf höchster Junioren-Stufe an solchen Wettbewerben vertreten. Doch auch hier gilt: Nur wenige der Spitzensportler befanden sich schon in jüngerem Alter auf diesem Niveau, auf der tiefsten Junioren-Stufe waren es gerade einmal sechs Prozent.

Was schlussfolgern die Autoren aus der Studie?

Die Ergebnisse der Studie deuten gemäss der Autorin und der Autoren auf folgende Erkenntnisse hin:

  1. Gute Leistungen bei den Junioren bedeuten nicht unbedingt gute Leistungen bei Erwachsenen.
  2. Die meisten Top-Performer bei den Juniorinnen werden später nicht auch Top-Performer bei den Erwachsenen.
  3. Die meisten Top-Performer bei den Erwachsenen waren zuvor nicht auch Top-Performer bei den Junioren.
  4. Das heutige Nachwuchsförderungssystem basiert auf falschen Annahmen und schadet den jungen Sportlerinnen mehr, als dass es hilft.

Was läuft bei der Jugendförderung falsch?

In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» kritisiert Prof. Dr. Arne Güllich, dass das heutige Prinzip der Talent-Erkennung und Nachwuchsförderung für die Kinder und Jugendlichen nicht optimal ist. So sei es falsch, dass sich bei Ansätzen zur Erkennung von Talenten alles um die aktuelle Leistung drehe und wenig über das langfristige Potenzial. Dabei habe die Wissenschaft mehrmals belegt, dass Talente in jungen Jahren nicht verlässlich erkennbar seien. Unter anderem, weil die «Vorhersagekraft für zukünftige Leistungen bei den einzelnen sogenannten Talenttests 0 bis 3 Prozent, bei den besten, komplexeren Modellen bis 7 Prozent beträgt».

Problematisch ist zudem, dass eine frühe Förderung den Nachwuchssportlern gar schaden könnte, wie Güllich sagt: «Der bei uns oft übertriebene Aufwand und die damit verbundenen Kosten aufseiten des Kindes – hinsichtlich seiner Zeit, seines Körpers, seiner Gesundheit, seiner Bildung – sind für den Erfolg im Erwachsenenalter weder erforderlich noch förderlich.»

Sportwissenschaftsprofessor Arne Güllich.
Sportwissenschaftsprofessor Arne Güllich.Bild: sowi.rptu.de

Am Beispiel Fussball erklärt er zudem, wie Kindern mit falschen Hoffnungen spätere Chancen im Leben abseits des Sports verbaut werden. So bekämen viele Nachwuchstalente zu hören: «Verzichte doch auf die Oberstufe. Zum Toreschiessen brauchst du keine Matur!» Wenn es dann mit der Profikarriere aber nicht klappt, stehen diese zum Teil vor grossen Problemen. Die Bilanz von Güllich fällt eindeutig aus: «Unser Sportfördersystem richtet da mitunter beträchtlichen Schaden an, und das ohne Not.»

Was sind die Gründe für die aktuelle Situation?

Gemäss dem Sportwissenschaftler von der Technischen Universität in Kaiserslautern gibt es vor allem drei Gründe für den aktuellen Zustand der Nachwuchsförderung:

  1. Die Faszination für Kinder, die ohne viel Training und mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit aussergewöhnliche Leistungen zeigen.
  2. Der Glaube, hohe Leistungen im Kindesalter führten sozusagen gesetzmässig zu hohen Leistungen im Erwachsenenalter.
  3. Der Glaube, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Wie kann es besser werden?

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Chancen auf langfristigen Erfolg höher werden, wenn der Zeitaufwand und die körperliche Belastung im Kindesalter zunächst tiefer sind. Ein Vergleich zwischen Weltklasse-Athleten und der nationalen Klasse zeige, dass erstere …

  1. … später mit ihrer Hauptsportart begonnen haben.
  2. … als Kinder und Jugendliche weniger trainiert haben.
  3. … öfter und länger in ein bis zwei anderen Sportarten trainiert und an Wettkämpfen teilgenommen haben.
  4. … ihre ersten Meisterschaftserfolge erst in späterem Alter erreicht haben.

Daraus schliesst Güllich, dass die Talentauswahl lieber länger hinausgezögert werden sollte. So könnten die Nachwuchs-Talente länger im gewohnten Umfeld und der gewohnten Schule bleiben. Ausserdem ist es förderlich, wenn sie «länger zwei oder drei Sportarten ausüben, länger eher weniger und weniger hart trainieren.» Ein wichtiger Faktor ist zudem Geduld, wie Güllich sagt: «Aussergewöhnliche Persönlichkeiten brauchen lange Zeit zur Reifung.»

Welche Rolle spielen dabei die Eltern?

In vielen Fällen geht der Leistungsdruck in jungen Jahren vor allem von den Eltern aus. Das dürfe gemäss dem Autor der Studie aber nicht so sein. Es sei zwar völlig okay, «den eigenen Kindern Erfolg zu wünschen, sich mit ihnen über ihre Leistungen zu freuen und ihnen zu ermöglichen, ihr Potenzial auszuschöpfen». Doch spreche nichts dafür, die Leistung in jungen Jahren schon forciert zu beschleunigen.

Eltern sollten ihre Kinder beim Lernen unterstützen, anstatt gute Leistungen zu forcieren.
Eltern sollten ihre Kinder beim Lernen unterstützen, anstatt gute Leistungen zu forcieren.Bild: shutterstock

Viel entscheidender sei nämlich, den Kindern einen Sport zu bieten, der ihnen Freude bereitet und bei dem sie sich jedes Mal freuen, ihn zu betreiben. Dabei solle vor allem das Lernen der Kinder unterstützt werden, denn: «Die meisten Kinder lieben das Lernen.»

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102 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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anonymer analphabet
26.10.2023 15:19registriert April 2016
Im Kinderfussball werden Juniorenteams auseinander gerissen, in irgendwelche Talentteams gesammelt, um 3/4 der Kinder drei Monate später mit dem Prädikat "ungenügend" wieder zurück zu schicken. Das macht alle unglücklich, anstelle das die Kinder solange wie möglich als Team zusammenbleiben, Spass haben und zusammen wachsen.
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u72boot
26.10.2023 15:03registriert Oktober 2023
Ist doch auch in der Schule das gleich Problem. Gemessen wird schon in der Primarschule nach Leistungsprinzip. Vielleicht sollte man auch das mal überdenken.
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Bikemate
26.10.2023 16:54registriert Mai 2021
Unser Sohn spielt Unihokey und scheint recht talentiert zu sein. Die Trainer haben dann gefragt, ob er bei den Grösseren zusätzlich mit trainieren will. Er wollte und es hat ihm extrem Spass gemacht. Inzwischen trainiert er 4x in der Woche. Wir haben ihm gesagt solange die Schule nicht zu kurz kommt ist es ok. Er liebt das Training total auch weil viele Freundschaften entstanden sind. Ich glaube aber, wenn wir Eltern ehrgeizig wären und Ihn pushen würden, könnte es schnell problematisch werden. Solange das Kind selber will und sich dabei nicht schadet ist alles ok.
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