Immer früher versuchen Verantwortliche in den verschiedensten Sportarten, Talente zu entdecken und diese möglichst stark zu fördern. Schliesslich möchte jeder Verein den nächsten Roger Federer oder Marco Odermatt hervorbringen. Nur könnte dieser Ansatz der völlig falsche sein. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie einer Gruppe von Sportwissenschaftlern aus Deutschland, Österreich und den USA.
Anhand der Studie sollte herausgefunden werden, inwiefern Erfolg im Spitzensport auf Erfolg bei den Junioren in derselben Sportart aufbaut. Das Forschungsteam aus Arne Güllich, Michael Barth, Brooke Macnamara und David Hambrick fokussierte sich dabei vor allem auf die Beantwortung der folgenden drei Fragen:
Das Forschungsteam stützte sich auf verschiedene Datensätze, die insgesamt über 38'000 Junioren-Sportler und knapp 23'000 Erwachsenen-Sportlerinnen umfassten. Davon waren jeweils rund 60 Prozent männlich und 40 Prozent weiblich. Bei den Junioren-Sportlern wurde analysiert, ob sie dasselbe Wettkampflevel später auch im Spitzensport erreicht haben. Bei den Erwachsenen wurde umgekehrt geprüft, ob sie dieses Niveau schon als Juniorinnen geschafft haben. Die drei untersuchten Wettkampflevel waren folgende:
Bei einem Grossteil der untersuchten Personen handelt es sich um Einzelsportlerinnen und -sportler, vor allem Leichtathletinnen, Schwimmer und Tennisspielerinnen. Bei den Teamsportlern waren es hauptsächlich Fussballerinnen und Rugby-Spieler. Die Juniorinnen und Junioren wurden zudem in vier Stufen eingeteilt, wobei die Stufe A die jeweils älteste Kategorie war (meist 17 bis 18 oder 18 bis 19 Jahre alt) und die Stufe D die jeweils jüngste Kategorie mit internationalen Wettbewerben (meist 11 bis 12 oder 12 bis 13 Jahre alt).
Die Studie kommt zum Schluss, dass nur wenige Junioren-Sportler später auch im Spitzensport dasselbe Niveau erreichen. Von den U17- und U18-Junioren auf internationaler Stufe erreichten 89,2 Prozent später nicht das internationale Level, während umgekehrt nur 18 Prozent der Erwachsenen-Sportler bei internationalen Wettbewerben diese Stufe bereits bei den Juniorinnen erreicht haben.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die erfolgreichen Junioren-Sportler und die erfolgreichen Erwachsenen-Sportlerinnen grösstenteils zwei völlig unterschiedliche Populationen sind – es gibt nur eine Überschneidung von 7,2 Prozent. Gerade auf dem höchsten Wettkampflevel und bei den jüngsten Junioren ist die Überschneidung sehr klein.
Eine Ausnahme bilden die Erwachsenen, die an nationalen Meisterschaften teilgenommen haben. 60 Prozent davon waren bereits auf höchster Junioren-Stufe an solchen Wettbewerben vertreten. Doch auch hier gilt: Nur wenige der Spitzensportler befanden sich schon in jüngerem Alter auf diesem Niveau, auf der tiefsten Junioren-Stufe waren es gerade einmal sechs Prozent.
Die Ergebnisse der Studie deuten gemäss der Autorin und der Autoren auf folgende Erkenntnisse hin:
In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» kritisiert Prof. Dr. Arne Güllich, dass das heutige Prinzip der Talent-Erkennung und Nachwuchsförderung für die Kinder und Jugendlichen nicht optimal ist. So sei es falsch, dass sich bei Ansätzen zur Erkennung von Talenten alles um die aktuelle Leistung drehe und wenig über das langfristige Potenzial. Dabei habe die Wissenschaft mehrmals belegt, dass Talente in jungen Jahren nicht verlässlich erkennbar seien. Unter anderem, weil die «Vorhersagekraft für zukünftige Leistungen bei den einzelnen sogenannten Talenttests 0 bis 3 Prozent, bei den besten, komplexeren Modellen bis 7 Prozent beträgt».
Problematisch ist zudem, dass eine frühe Förderung den Nachwuchssportlern gar schaden könnte, wie Güllich sagt: «Der bei uns oft übertriebene Aufwand und die damit verbundenen Kosten aufseiten des Kindes – hinsichtlich seiner Zeit, seines Körpers, seiner Gesundheit, seiner Bildung – sind für den Erfolg im Erwachsenenalter weder erforderlich noch förderlich.»
Am Beispiel Fussball erklärt er zudem, wie Kindern mit falschen Hoffnungen spätere Chancen im Leben abseits des Sports verbaut werden. So bekämen viele Nachwuchstalente zu hören: «Verzichte doch auf die Oberstufe. Zum Toreschiessen brauchst du keine Matur!» Wenn es dann mit der Profikarriere aber nicht klappt, stehen diese zum Teil vor grossen Problemen. Die Bilanz von Güllich fällt eindeutig aus: «Unser Sportfördersystem richtet da mitunter beträchtlichen Schaden an, und das ohne Not.»
Gemäss dem Sportwissenschaftler von der Technischen Universität in Kaiserslautern gibt es vor allem drei Gründe für den aktuellen Zustand der Nachwuchsförderung:
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Chancen auf langfristigen Erfolg höher werden, wenn der Zeitaufwand und die körperliche Belastung im Kindesalter zunächst tiefer sind. Ein Vergleich zwischen Weltklasse-Athleten und der nationalen Klasse zeige, dass erstere …
Daraus schliesst Güllich, dass die Talentauswahl lieber länger hinausgezögert werden sollte. So könnten die Nachwuchs-Talente länger im gewohnten Umfeld und der gewohnten Schule bleiben. Ausserdem ist es förderlich, wenn sie «länger zwei oder drei Sportarten ausüben, länger eher weniger und weniger hart trainieren.» Ein wichtiger Faktor ist zudem Geduld, wie Güllich sagt: «Aussergewöhnliche Persönlichkeiten brauchen lange Zeit zur Reifung.»
In vielen Fällen geht der Leistungsdruck in jungen Jahren vor allem von den Eltern aus. Das dürfe gemäss dem Autor der Studie aber nicht so sein. Es sei zwar völlig okay, «den eigenen Kindern Erfolg zu wünschen, sich mit ihnen über ihre Leistungen zu freuen und ihnen zu ermöglichen, ihr Potenzial auszuschöpfen». Doch spreche nichts dafür, die Leistung in jungen Jahren schon forciert zu beschleunigen.
Viel entscheidender sei nämlich, den Kindern einen Sport zu bieten, der ihnen Freude bereitet und bei dem sie sich jedes Mal freuen, ihn zu betreiben. Dabei solle vor allem das Lernen der Kinder unterstützt werden, denn: «Die meisten Kinder lieben das Lernen.»