«Do you believe in miracles? Yes!» Mit der Frage und seiner Antwort ging der amerikanische Reporter Al Michaels in die Sportgeschichte ein: «Glauben Sie an Wunder? Ja!» Michaels fragte dies die Zuschauer 1980 an den Olympischen Spielen beim Eishockey-Spiel zwischen den USA und der hochfavorisierten Sowjetunion. Die Amerikaner gewannen das Spiel 4:3 und schufen eine der grössten Sensationen in der Geschichte des Sports.
Das «Miracle on Ice» war geboren. Der Unterschied zwischen der amerikanischen College-Auswahl und der sowjetrussischen Eishockey-Maschine war grösser als jener zwischen den aktuellen Fussball-Nationalteams der Schweiz und Spanien.
Doch auch die Mannschaft von Vladimir Petkovic hätte zum Weiterkommen ein mittleres Wunder benötigt. Schliesslich war sie trotz dem glorreichen Erfolg über Weltmeister Frankreich im Achtelfinal der Aussenseiter gegen Spanien. Nachdem sie gegen den «Kombinations-Weltmeister» eine halbe Stunde lang kein Land sieht und 0:1 in Rückstand gerät, klappt es besser. Nach der Pause ist die Schweiz, für die Xherdan Shaqiri der Ausgleich gelingt, gar lange das spielbestimmende Team – bis Remo Freuler wegen einer Roten Karte vom Feld fliegt.
Der Platzverweis wird zum Knackpunkt. Zu zehnt laufen die Schweizer den Spaniern nur noch hinterher. Torhüter Yann Sommer rettet sie in die Verlängerung und ins Penaltyschiessen. Dieses verläuft dramatisch: Zwei Mal kann die Schweiz spanische Versäumnisse – Busquets trifft den Pfosten, Sommer pariert gegen Rodri – nicht ausnutzen. Schär, Akanji und Vargas scheitern mit ihren Versuchen, und so gewinnt dann doch der Favorit.
Es ist ein abruptes Ende des Schweizer EM-Märchens und eines, dem man aufgrund der Art und Weise, wie es zustande kam, noch lange nachtrauern wird. Aber nach all den Geschehnissen der letzten Wochen ist es nur schon erfreulich, dass nun nach dem Ausscheiden über den Sport gesprochen wird. Über Fouls, Tore, Fehlschüsse; über die Enttäuschung auf dem Platz – und nicht mehr über das Verhalten neben dem Rasen. So wie es an diesem Turnier zu lange der Fall war.
Erst Aufregung, als Spieler mit teuren Autos ins Nati-Camp einrücken. Dann Aufregung um eine Tätowierung. Eine Enttäuschung beim 1:1 gegen Wales. Das Einfliegen eines Figaros, um im Rom Haare zu blondieren. Ein desolater Auftritt beim 0:3 gegen Italien, der viele Fans ratlos macht und viele Gelegenheits- und Nichtfans stinksauer.
Die Reaktion beim souveränen Sieg gegen die Türkei und dann die Achterbahnfahrt im Achtelfinal. Gegen Weltmeister Frankreich der optimale Start, danach fatale vier Minuten und drei Sekunden: Ein verschossener Penalty, zwei französische Tore, aus dem 1:0 wird kein 2:0, sondern ein 1:2. Wenig später der dritte Gegentreffer, das vermeintliche Aus. Wie immer im Achtelfinal.
Doch dann die kaum mehr für möglich gehaltene Wende – die Partie wird zu einer Sternstunde der Schweizer Fussballgeschichte. Mit zwei späten Toren erzwingt die Nati eine Verlängerung. Und hat Glück, dass es diese überhaupt gibt, ist doch die letzte Aktion der regulären Spielzeit ein Lattenschuss der Franzosen. Wenig fehlte und statt Euphorie wäre wieder einmal über Pech, über Unvermögen oder über (zu) frühes Ausscheiden diskutiert worden.
Nun fehlte dieses entscheidende Quäntchen Wettkampfglück gegen Spanien. Natürlich sind Team und Anhänger darüber enttäuscht, dass die EM-Reise vorbei ist. Zu schön war der Traum von der ganz, ganz grossen Sensation. Da und dort war nach dem Sieg über Frankreich schon auf Dänemark und Griechenland hingewiesen worden, die 1992 bzw. 2004 als krasse Aussenseiter den EM-Titel gewannen.
Mit einigen Tagen Abstand wird aber wohl die Freude über das Erreichte überwiegen. Endlich, endlich hat die Schweiz den «Achtelfinal-Fluch» besiegt und ist an einem grossen Turnier unter die letzten Acht vorgestossen. Und hat den Halbfinal nur um ein Haar verpasst.
Das weckt Lust auf mehr. In weniger als eineinhalb Jahren findet in Katar die Fussball-WM 2022 statt. Die Qualifikation dafür ist zwar keine Formsache, sollte der Schweiz aber gelingen. Und dann, das hat die Mannschaft gegen Frankreich und gegen Spanien bewiesen, ist mit diesem Team wieder vieles möglich. Vor allem, wenn Vladimir Petkovic mit seiner attraktiven Spielweise Trainer bleibt. Das Schweizer Pech ist es, dass das spätestens an dieser EM auch ganz vielen anderen aufgefallen ist. Aber auch der Tessiner hat gesehen, dass sein Weg mit der Nati noch nicht abgeschlossen ist.
Man darf sich schon jetzt auf den nächsten Turnierauftritt der Schweizer Nationalmannschaft freuen.