Es ist kurz nach Mitternacht in der Innenstadt von Bukarest. Der 28. Juni 2021 ist erst ein paar wenige Minuten alt. Ich stehe mit Bernard in einer kleinen Gasse, die letzte Runde ist eigentlich schon vorbei, der Barkeeper winkt mir zu. «Komm rasch rein», ruft er, zwei kleine Flaschen Bier verkauft er mir doch noch, aber nur wenn die Securitys nichts sehen.
Bernard ist Journalist bei der renommierten französischen Sportzeitung «L’Equipe», wir haben uns an der WM in Brasilien kennengelernt, als die Schweiz bereits einmal gegen Frankreich spielte, 5:2 gewann «La Grande Nation» damals, die Erinnerungen sind uns beiden noch präsent. «Wird es wieder eine Machtdemonstration?», frage ich ihn. Ein bisschen aus Höflichkeit, der Schweizer macht sich im Sport ja gerne kleiner als er ist. Aber auch, weil das durchaus denkbar ist, schliesslich ist Frankreich der amtierende Weltmeister und grosse Favorit in diesem EM-Achtelfinal gegen die Schweiz. Bernard aber hält inne. Er nimmt einen Schluck und sagt:
Ich sage lächelnd: «Alles ist möglich» Und denke für mich: «Es ist ein Achtelfinal. Natürlich wird die Schweiz verlieren. Wie immer.»
Eine Achterbahn der Gefühle. 2:1 in letzter Sekunde gegen Ecuador, das lamentable 2:5 gegen Frankreich, ein 3:0 gegen Honduras als tolle Reaktion. Der Achtelfinal gegen Argentinien und Lionel Messi als Belohnung.
Nach dem Turnier tritt Trainer Ottmar Hitzfeld zurück. Er zeigt an dieser WM noch einmal seine grosse Klasse. Nach der Ohrfeige gegen Frankreich gelingt es ihm, das Team wieder aufzurichten. 117 Minuten langen halten die Schweizer Messi und Co. in Schach. Doch dann reicht ihm ein kleiner Fehler, um davonzuziehen – und damit das Tor von Di Maria vorzubereiten. Bitter. Aber es kommt noch schlimmer. Die Schweizer werfen alles nach vorne. In letzter Sekunde fliegt der Ball zu Dzemaili. Kopfball. Pfosten. Schienbein. Daneben. Aus. Vorbei. Tränen.
Das Spiel alleine wäre eigentlich dramatisch genug gewesen. Auf die Fahrt vom Stadion zurück ins Hotel hätte ich jedenfalls gut verzichten können. Der Taxifahrer meint, uns beweisen zu müssen, der nächste Ayrton Senna zu sein. Am nächsten Morgen lesen wir in der Zeitung die Schlagzeile: «Argentinische Journalistin nach Taxi-Unfall gestorben.»
Das erste grosse Turnier für die Nati mit Vladimir Petkovic als Trainer. Es beginnt mit dem Bruderduell, Schweiz gegen Albanien, Granit Xhaka gegen Taulant Xhaka, 1:0 für die Schweiz. Der Sieg ist die Basis für das Weiterkommen. Nach dem 1:1 gegen Rumänien und dem 0:0 gegen Frankreich wartet nun im Achtelfinal Polen.
Es könnte der grosse Tag für Xherdan Shaqiri werden. Die Schweiz liegt zurück, drängt aber mit jeder Minute heftiger auf den Ausgleich. Dann kommt er, dieser Moment, der für immer unvergessen scheint, der Ball fliegt auf Shaqiri zu, dieser hebt ab, und trifft per Fallrückzieher zum 1:1. Verlängerung. Der historische Schweizer Sieg ist jetzt zum Greifen nahe. Aber das Tor fällt nicht. Es kommt zum Penaltyschiessen. Granit Xhaka wird zum tragischen Helden, er verschiesst als Einziger. Aus. Vorbei. Tränen.
Gleich zu Beginn ein 1:1 gegen Rekord-Weltmeister Brasilien als Einstimmung. Kommt gut! Und es wird noch besser. 2:1 besiegt die Nati Serbien. Und doch ist jener Abend in Kaliningrad verhängnisvoll. Die Torschützen Xhaka und Shaqiri feiern mit dem Doppeladler, es ist die Reaktion auf die zahlreichen geschmacklosen Provokationen der Serben.
Doch die Geste verursacht riesigen Wirbel in der Schweiz. Plötzlich steht nicht mehr die Frage Sieg oder Niederlage im Vordergrund, sondern jene nach der Identifikation der Spieler mit der Schweiz. Derweil drohen Sperren seitens der FIFA wegen «politischer Gesten». So weit kommt es zwar nicht, aber der Fokus aller Beteiligten verschiebt sich.
Nach dem 2:2 gegen Costa Rica zum Abschluss der Vorrunde glauben die Spieler, die Doppeladler-Krise überstanden zu haben. Im Achtelfinal wartet nicht Weltmeister Deutschland, sondern überraschend Schweden. «Wenn nicht jetzt, wann dann?», fragt Blerim Dzemaili mit Blick auf den ersehnten Viertelfinal. Er ist bei weitem nicht alleine mit diesen Gedanken.
Hoffnungsvoll reisen die Schweizer nach St.Petersburg. Doch der Auftritt ist rätselhaft, blutleer. So, dass eben der Verdacht nahe liegt, sämtliche Energien seien mit dem Doppeladler verpufft. Akanji lenkt den Ball unglücklich ins eigene Tor, 0:1. Danach folgt: nichts. Aus. Vorbei. Es gibt nicht einmal Tränen.
Die Schweizer spielen in Baku und Rom. Das 1:1 gegen Wales zum Start ist nicht gut. Aber auch nicht dramatisch. Doch wieder einmal verkommt der Sport zur Nebensache. Captain Xhaka, vor dem Turnier unerlaubterweise im Tattoo-Studio, und Akanji tauchen im Training mit blonden Haaren auf – den Coiffeur haben sie aus der Schweiz eingeflogen. Das Spiel gegen Italien gerät zum Desaster, das 0:3 ist der schlechteste Auftritt in sieben Jahren unter Vladimir Petkovic.
Vor dem schicksalsträchtigen Spiel gegen die Türkei wendet sich der Nationaltrainer in einem offenen Brief in dieser Zeitung ans Volk, appelliert an die Unterstützung der Schweizerinnen und Schweizer – er gelobt, das Team werde alles tun für die Wiedergutmachung. Es gelingt. Nach dem 3:1 gegen die Türkei qualifiziert sich die Nati als Gruppendritter doch noch für den Achtelfinal gegen Frankreich.
Der Schweiz gelingt ein Traumstart, Seferovic köpfelt zum 1:0. Die Nati spielt abgeklärt, hat die Franzosen jederzeit im Griff. Und dann, 54 Minuten sind gespielt, darf Rodriguez zum Elfmeter antreten. Die Sensation ist zum Greifen nahe. Rodriguez läuft an ... und scheitert. Auf der Tribüne in Bukarest schauen mein Sitznachbar und ich einander an. Wir ahnen Böses. 20 Spielminuten später steht es 1:3. Aus. Vorbei. Tränen.
Ich muss ans Gespräch mit Bernard vom Vorabend denken. An meine Gedanken. Logisch, endet der 28. Juni 2021 so. Die Sehnsucht nach dem Viertelfinal wird bleiben. Und die Frage ewig lange quälend über der Nati schweben: Was wäre gewesen, wenn Rodriguez diesen Elfmeter nicht verschossen hätte?
An der Seitenlinie steht Vladimir Petkovic die Ernüchterung ins Gesicht geschrieben. Später erzählt er mir, was ihm in diesen Momenten durch den Kopf geht. «Ich habe einfach gehofft, dass es nicht noch ein Debakel wird. Dass wir nicht ein viertes oder fünftes Gegentor kassieren.»
Doch was dann geschieht, geht in die Schweizer Geschichte ein. Es ist ein kleines Wunder. Angetrieben von Captain Xhaka richten sich die Schweizer wieder auf. Tor Seferovic. Nachspielzeit. Tor Gavranovic. Verlängerung. Penaltyschiessen. Sommer fliegt, Sommer hält. Aus. Vorbei. Tränen – aber diesmal aus purer Freude.
Happy Birthday, Schweizer Nati!
A year ago today, a legend was born 🙌
— ESPN FC (@ESPNFC) June 28, 2022
(via @EURO2024)pic.twitter.com/lHjqF7w0Jj