Inzwischen zählt Tom Lüthi zu den Grössten aller Zeiten. In der «ewigen Rangliste» der WM-Punkte aller Klassen ist er auf den 8. Platz vorgerückt. Vor 16 Jahren hat er hier in Barcelona seinen ersten Podestplatz herausgefahren (2. hinter Dani Pedrosa in der 125-ccm-Kategorie). Nun ist ihm der 61. Podestplatz gelungen. Mit Rang 2 hinter Alex Marquez, dem jüngeren Bruder von MotoGP-Titelverteidiger Marc Marquez.
Das erste Podest vor 16 Jahren war ein überwältigendes Erlebnis: «Ich erinnere mich noch gut und weiss bis heute doch nicht, wie das passiert ist …»
Was einst ein überwältigendes Erlebnis war, der «Urknall», der die Karriere von Tom Lüthi lanciert hat, ist nun fast Routine – und ganz tief in seiner Rennfahrer-Seele eine leise Enttäuschung.
Natürlich: ein 2. Platz in einem Rennen zur zweitwichtigsten Töff-WM ist eine grandiose Leistung. Aber Lüthi strebt im goldenen Herbst seiner Karriere nach dem ultimativen Ziel. Dem WM-Titel. Seinem zweiten nach 2005 (125 ccm). Und da ist dieser 2. Platz halt eine Niederlage gegen Alex Marquez. Tom Lüthi sagt: «Die WM dauert noch lange und es ist viel zu früh, sich auf einen Gegner einzustellen.»
Das muss er so sagen. Noch kann viel passieren. Und doch zeichnet sich ab: Den Titel werden der Spanier (111 Punkte) und der Schweizer (104 Punkte) in den verbleibenden 12 Rennen unter sich ausmachen. Der «heisseste», konstanteste der jungen Generation gegen den erfahrensten, smartesten Routinier. Ein Duell, das uns noch in Atem halten wird.
Es sind die Nummer 1-Piloten der beiden besten Teams. Alex Marquez fährt im Rennstall des belgischen Grafen Marc van der Straten. Ausgerechnet. In diesem Team ist Tom Lüthis MotoGP-Abenteuer letzte Saison so gründlich missglückt, dass sich der Graf aus der MotoGP-Klasse zurückgezogen hat und sich wieder ganz auf die Moto2-WM konzentriert.
Alex Marquez hatte letzte Saison nicht ein einziges Rennen gewonnen. Nun hat er den dritten Sieg in Serie gefeiert. Er sagt, er habe seinen Fahrstil verändert und er fühle sich in seinem Team sehr wohl. «Das ist für mich wichtig.»
Tom Lüthi ist die Nummer eins beim deutschen Batterie-Hersteller Dynavolt und auch er betont bei jeder Gelegenheit, wie wohl er sich im Team fühle. Und damit sind wir bei den «weichen Faktoren», die diesen Titelkampf entscheiden werden. Die Technik kann die Differenz in den verbleibenden 12 Rennen nicht machen. Es wird ein Duell auf Augenhöhe.
Alle Piloten haben die gleichen Motoren (Triumph) und die gleichen Reifen (Dunlop). Alex Marquez und Tom Lüthi setzen zudem auch das gleiche Fahrgestell ein (Kalex). Und beide haben diese Saison je einen «Nuller» (Rennen ohne WM-Punkte) auf dem Konto, beide standen viermal auf dem Podest. Aber Alex Marquez dreimal als Sieger und Tom Lüthi nur einmal.
Selbstvertrauen, Nervenstärke, Konstanz, taktische Rennintelligenz werden entscheidend sein. Tom Lüthi stimmt dieser simplen Analyse zu. «Natürlich spielen psychologische Faktoren eine Rolle.» Er wirkt gerade in diesem Bereich stärker als je in seiner Karriere. Dem mag er nicht widersprechen. «Nach allem, was ich letzte Saison durchgemacht habe, bin ich stärker geworden.» Es war die MotoGP-Saison ohne WM-Punkte.
Das Umfeld ist inzwischen perfekt. Der Vertrag mit seinem Arbeitgeber Dynavolt ist auch für die Saison 2020 gültig. Es gibt keine Spekulationen um die Zukunft. Und Teamkollege Marcel Schrötter (26) stört die Harmonie nicht im Geringsten. Der freundliche Deutsche verneigt sich geradezu vor Tom Lüthi, hat im Direktduell keine Chance und ist in der Rolle der Nummer 2 glücklich.
Ein perfektes Team mit einem harmonischen Umfeld ist ein wichtiger Faktor. Aber die stärkste psychologische Wirkung erzielt ein überzeugender Sieg. Am besten im Direktduell mit Alex Marquez: ein «Big Bang» («grosser Knall»). Ein solcher wäre ein Sieg heute in Barcelona gewesen.
Lüthi hat 2016 (gegen Johann Zarco) und 2017 (gegen Franco Morbidelli) das Duell um den WM-Titel in der zweitwichtigsten Töff-WM verloren. Er war nahe dran, aber der «Big Bang», der grosse, den Rivalen verunsichernde Sieg gelang ihm nicht. Er blieb immer der getriebene, der gehetzte Herausforderer, der an seinem coolen, immer selbstsicherer werdenden Gegenspieler einfach nicht vorbeikam. 2016 und 2017 musste er sich mit dem 2. WM-Schlussrang begnügen.
Nun nehmen Selbstvertrauen und Sicherheit bei Marquez in beunruhigendem Masse zu. Doch Tom Lüthi ist zuversichtlich. Optimistischer als er 2016 und 2017 in seinen besten Momenten war. «Wir sind Alex Marquez nähergekommen.» Vielleicht reicht es beim nächsten Anlauf in zwei Wochen in Assen bereits zum Überholen. Zum «Urknall», der den Titel ankündigt.
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