Überaus viele Medaillenchancen besitzt China an den Olympischen Winterspielen 2022 nicht. Denn das Reich der Mitte ist (noch?) kein Reich der Wintersportlerinnen und -sportler, jedenfalls nicht auf höchster Ebene. 13 Medaillen sagen die Analysten von Gracenote für China voraus; von der Schweiz erwarten sie 21 Mal Edelmetall.
Mit die grössten Chancen, für den Olympia-Gastgeber eine oder gleich mehrere Medaillen zu gewinnen, gibt man Eileen Gu. Die Freestyle-Skifahrerin ist zwar erst 18-jährig, feierte in diesem Winter aber schon fünf Weltcupsiege. In der vergangenen Saison gewann sie sowohl an der WM wie auch an den X-Games zwei Mal Gold. Ob Halfpipe, Slopestyle oder Big Air: Ganz egal, wo Gu antritt, sie zählt zu den Topfavoritinnen.
Aber Gu ist in China weit mehr als nur eine hoffnungsvolle Sportlerin. Sie ist auch ein Aushängeschild des Staates und von Staatspräsident Xi Jinping. Gewissermassen hat er die Sportlerin dem Rivalen USA ausgespannt.
Denn geboren und aufgewachsen ist Eileen Gu in Kalifornien. Die Tochter eines Amerikaners und einer Chinesin wurde amerikanische Meisterin und nahm für die USA an Junioren-Weltmeisterschaften teil.
Doch im Sommer 2019 entschied sie sich kurz vor ihrem 16. Geburtstag, unter anderer Flagge anzutreten. Ihr Traum: für die Heimat ihrer Mutter an den Heimspielen von Peking Olympiasiegerin zu werden. «Niemand kann leugnen, dass ich Amerikanerin bin, niemand kann leugnen, dass ich Chinesin bin», sagte Gu, die sich beiden Ländern zugehörig fühlt. «In den USA bin ich Amerikanerin, in China bin ich Chinesin.»
Sie war schon Weltcupsiegerin unter US-Flagge, als sie 2019 in China mit anderen jungen Sportlern empfangen wurde und mit Staatspräsident Xi für Fotos posierte. Der politische Führer des Landes machte den Athleten Mut und forderte sie auf, bei den ersten Olympischen Winterspielen in China Ehre für ihr Mutterland zu erlangen. Gemäss dem «Economist» sprach Eileen Gu nie über dieses Treffen.
Der Nationenwechsel sorgte für Aufsehen. Gu wurde beschimpft, beleidigt und bekam gar Morddrohungen. «Meine Direktnachrichten wurden regelrecht überflutet», schilderte sie dem Magazin «Time». Dabei ist sie doch bloss ein Teenager, der im Schnee für Furore sorgen möchte. «Es ist schwer, sich durch Tausende von Unterstellungen und hasserfüllte Dinge durchzulesen, wenn man sich in einer so beeindruckenden Phase seines Lebens befindet.» Dass sie von der Familie, Freunden und auch ehemaligen US-Teamkollegen unterstützt wurde, half ihr bei der Bewältigung.
Doch wenige Wochen vor dem Beginn der Spiele eskalierten die Spannungen zwischen den USA und China. US-Präsident Joe Biden hatte im Dezember einen diplomatischen Boykott der Spiele angekündigt. Und so ist Ellen Gu eben nicht nur eine hoffnungsvolle Sportlerin, sondern auch ein Prestigeobjekt. Ihr Sieg ist noch mehr einer für China, als wenn eine andere Sportlerin triumphieren würde.
Aber Gu ist nicht nur Sportlerin, sie hat auch schon als Model gearbeitet und das für berühmte Marken wie Louis Vuitton, Tiffani, Gucci oder die Schaffhauser Uhrenmarke IWC. Die Teenagerin war auch schon auf dem Cover von Zeitschriften wie Elle oder Vogue. 260'000 Follower hat sie aktuell auf Instagram, ohne Zweifel werden es nach den Spielen mehr sein oder im Falle mehrerer Goldmedaillen sehr viel mehr.
Zwei Schweizerinnen haben allerdings etwas dagegen, dass nach den Wettkämpfen die chinesische Nationalhymne ertönt. Sarah Höfflin und Mathile Gremaud gewannen vor vier Jahren in Pyeongchang Gold und Silber im Slopestyle. Nun gehören sie in dieser Disziplin ebenso wie im Big Air zu den Favoritinnen.