Eigentlich schaut Anouk Vergé-Depré immer hin, wenn ihre jüngere Schwester Zoé irgendwo auf der Welt auf einem Beachvolleyball-Court steht. Sie fiebert dann mit, jubelt über gewonnene Punkte - und umgekehrt ist es genauso.
Doch als Zoé Vergé-Depré zuletzt in Brasilia ein Turnier spielt, dort von Sieg zu Sieg eilt, schaut ihre Schwester nur so halb zu und jubeln mag sie nicht. Am Ende schafft es Zoé mit ihrer Partnerin Esmée Böbner beim hochklassig besetzten Pro-Tour-Turnier auf den dritten Platz. Es ist der grösste Erfolg ihrer Karriere. Und zu Hause in Bern denkt sich Anouk mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Das wäre jetzt nicht nötig gewesen.
Anouk und Zoé Vergé-Depré sind zwei Schwestern aus Bern, die über sich sagen, dass sie sich nahestehen, sehr sogar. Die beiden teilen die Leidenschaft fürs Beachvolleyball und den Traum, im Sommer nach Paris zu reisen. Ans olympische Beachvolleyball-Turnier, den mit Abstand wichtigsten Anlass der Sportart, weil dann die ganze Welt hinschaut.
Doch jetzt hat dieser Traum die beiden Schwestern in Rivalinnen verwandelt, weil er sich nur für eine von ihnen erfüllen kann.
Die Schweiz ist zwar ein Land fast ohne Sand, doch im Beachvolleyball ist sie dennoch eine Grossmacht. Gleich drei Frauen-Duos spielen an der Weltspitze mit und stehen eigentlich im Olympia-Ranking hoch genug, um sich für Paris zu qualifizieren. Zugelassen sind aber pro Land nur zwei Teams. Eines davon besteht mit grosser Wahrscheinlichkeit aus Nina Brunner und Tanja Hüberli, weil die beiden sich ein schönes Polster auf ihre Konkurrentinnen erarbeitet haben.
Bleibt noch ein Platz für zwei Vergé-Deprés. Entweder Anouk, 32 Jahre alt, und ihre Partnerin Joana Mäder. Oder Zoé, 26 Jahre alt, mit Partnerin Esmée Böbner. Und weil es knapp ist und jetzt jedes Resultat zählt, rasen die beiden Schwestern um die Welt, jagen Punkte - und auch einander. Kürzlich fand ein Turnier der World Tour in China statt und das nächste in Brasilien - fünf Flüge in zwei Tagen, dazu der Jetlag.
«Völlig crazy» sei dieses Programm, sagt Zoé. «Eine riesige Belastung, klar, aber weil das Rennen so eng ist, bleibt uns nichts anderes übrig», sagt Anouk.
In den letzten Wochen lagen mal Vergé-Depré/Mäder vorne und dann wieder Vergé-Depré/Böbner. Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das an den Nerven zehrt - und das jetzt auf seinen Höhepunkt zuschiesst, mit drei Turnieren innert dreier Wochen: ab dem kommenden Mittwoch in Portugal, dann in Polen und Tschechien.
Als Zoé vor ein paar Wochen in Guadalajara, Mexiko, zum ersten Mal ein Pro-Tour-Turnier gewann, stellte Anouk danach ein Foto in die sozialen Medien. Sie hält ihre Schwester darauf in den Armen. Anouk, die ältere, schaut keck in die Kamera. Zoé, die jüngere, lächelt, im Mund steckt ein Nuggi.
Dazu schreibt Anouk auf Englisch, dass sie sich nicht einmal über die erste Goldmedaille ihrer Schwester freuen könne, weil sie jetzt mehr arbeiten müsse, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Und Zoé antwortet, kurz und knapp: «It's fucked up».
Wenn die eine gewinnt, es bei ihr ganz wunderbar läuft, dann ist das für die andere schlecht: So ist das jetzt für die beiden Schwestern, die einander sonst Halt geben, ihr Glück und ihre Sorgen teilen. «Wir erzählen uns eigentlich alles, die Verbindung ist sehr eng», sagt Anouk.
Jetzt gibt es da diesen Elefanten im Raum. Und die beiden Schwestern haben sich angewöhnt, ihn zu ignorieren. Nicht über Beachvolleyball zu sprechen, sondern über alles andere. Einander Raum zu lassen, wenn das jemand braucht. «Viele Leute fragen uns: Wie macht ihr das bloss? Die Antwort lautet: Man findet es nach und nach raus», sagt Anouk.
Die beiden Schwestern wachsen in Bern auf. Zum Volleyball finden sie über die Eltern, die beide auf hohem Niveau spielen. Der Vater trainiert sie zwischenzeitlich auch. Darüber, wie es ihm gerade geht, da die Töchter gegeneinander um den Olympia-Startplatz kämpfen, mag er öffentlich nicht sprechen. Seine Wurzeln hat er auf der Karibikinsel Guadeloupe; die Mutter stammt aus dem Berner Oberland.
Die Schwestern lieben beide Welten, das Meer, die Berge, sowieso sind sie gerne unterwegs, gieren nach Neuem, sind Entdeckerinnen. Das müssen sie auch sein für dieses Leben, das sie führen. Ein Leben aus dem Koffer, das sich auf Beachvolleyball-Plätzen in aller Welt abspielt, auf Flughäfen, in Hotelzimmern.
Als Zoé auf die Welt kommt, ist Anouk schon sechs Jahre alt und so kommt es, dass die ältere Schwester die jüngere oft hütet, auch: behütet. Weil sie sechs Jahre auseinander sind, beschäftigen die beiden in der Kindheit kaum einmal die gleichen Themen. Freundinnen werden aus den Schwestern erst, als auch Zoé erwachsen ist. «Und eine Konkurrenzsituation», sagt Anouk, «hat sich deshalb nie entwickelt - bis jetzt.» Es gebe keine Vorgeschichte. Sie ist überzeugt, dass ihnen das hilft, die aktuelle Situation gelassener zu nehmen.
Die Rollen sind dabei klar verteilt, weil die beiden in ihren Karrieren an einem unterschiedlichen Punkt stehen. Hier die aufstrebende Zoé mit Partnerin Böbner. Da die etablierte Grösse Anouk mit Joana Mäder. In Tokio haben die beiden 2021 Olympia-Bronze gewonnen. Zoé bekam das nur aus der Ferne mit, die Pandemie, aber natürlich, sagt sie, hat «uns das alle wahnsinnig berührt».
Jetzt, drei Jahre später, ist die kleinere Vergé-Depré der grossen Schwester auf die Pelle gerückt. Derzeit hat sie im Olympia-Ranking gar knapp die Nase vorn und ihre Form ist bestechend.
Es werde sicher nicht einfach für diejenige, die daheim bleiben muss, sagt Anouk, aber eines sei sicher: «Unsere Beziehung wird das nicht verändern, sie verkraftet das.»
Eigentlich, sagt Zoé, sei das ja eine «sehr coole» Situation: zwei Schwestern, die so gut sind, an der Weltspitze, gemeinsam, und ganz nahe dran an Olympia. Aber man hört ihr an, dass sie sich schon auch auf den Moment freut, an dem das alles vorbei ist.
Zuerst folgt nun aber der Endspurt. Drei Turniere, an denen beide Schwestern teilnehmen, an denen sie vielleicht sogar aufeinandertreffen, direkt, und dann geht es um alles.
Müsste nicht unbedingt sein. Könnte aber so kommen. Überhaupt: Warum spielen die beiden Schwestern eigentlich nicht Seite an Seite? Das, sagt Zoé, sei bisher nie ernsthaft zur Debatte gestanden. Aber reizen täte sie beide das schon, sagt sie, und wer wisse schon, was die Zukunft bringe.