1986 erschüttert die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl die Welt. «Top Gun» lockt ins Kino, Madonna stürmt weltweit die Charts und Diego Maradona trifft gegen England erst mit der «Hand Gottes» und schiesst kurz darauf sein Jahrhunderttor.
1986 war auch das Jahr, in dem Zeng Zhiying ihre Karriere beendete. Frustriert zog die chinesische Nationalspielerin nach einer Regeländerung einen Schlussstrich. Denn fortan musste mit zweifarbigen Schlägern gespielt werden, was das Spiel für das Gegenüber berechenbarer machte. Die 20-Jährige, die zeitlebens mit einfarbigen Schlägern spielte, fühlte sich ihrer Stärken beraubt. «Diese Regel hat mein Spiel zerstört», sagte Zeng rückblickend zum «Guardian».
«Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiss nie, was man bekommt.» Diesen berühmten Satz prägte der Leinwand-Held Forrest Gump, der im gleichnamigen Kassenknüller unter anderem ein Tischtennis-Ass war. Es ist ein Satz, der wunderbar zur mittlerweile 58-Jährigen passt. Denn heute Nachmittag um 15.45 Uhr wird sie in Paris an den Olympischen Spielen antreten. Zeng Zhiying kämpft gegen Mariana Sahakian aus dem Libanon um einen Platz im Hauptfeld.
So wie es Forrest Gump von einem Abenteuer zum nächsten spülte, kam Zeng zu ihrem Aufgebot. Für die chinesische Auswahl ist sie bei allem Talent nicht mehr gut genug. Für ihre Wahlheimat schon: Chile.
In Iquique, ganz im Norden des langgezogenen Landes, gehört Zeng eine Möbelfabrik. Es hatte sie 1989 dorthin verschlagen, drei Jahre, nachdem sie mit ihrer Liebe, dem Tischtennis, Schluss gemacht hatte. Ein chinesischer Trainer vermittelte ihr eine Stelle als Nachwuchstrainerin. Sie legte sich einen westlichen Namen zu, lebte fortan als Tania und verabschiedete sich schon bald ein zweites Mal vom Tischtennis, um stattdessen mit chinesischen Importgütern zu handeln. Sie griff nur nochmals zum Schläger, um ihren Sohn dazu zu bewegen, seine Zeit statt mit Videosgames mit Sport zu verbringen.
Eine Teilnahme an Olympischen Spielen? Nichts hätte ferner sein können – bis die Corona-Pandemie die Welt zum Stillstand brachte. Gegen die Langeweile im strikten Lockdown in Chile kaufte sich Zeng einen Tischtennistisch und spielte stundenlang alleine. Als der Lockdown endlich aufgehoben wurde, nahm sie aus Spass an einigen lokalen Turnieren teil. Sie gewann sie alle mühelos.
Im hohen Sportlerinnenalter kam Zeng Zhiying unverhofft zu einer zweiten Karriere. Sie kletterte in der nationalen Rangliste so weit nach oben, bis sie 2023 die Nummer 1 von Chile war. Drei Stunden trainiert sie mittlerweile täglich, mehr lässt der Körper nicht zu. «Wenn du jung bist, tut dir nichts weh. Jetzt schmerzt mir die Schulter, wenn ich zu lange spiele.»
Tia Tania (Tante Tania) nennt man sie in ihrer Wahlheimat. Im letzten Jahr gewann sie erstmals für Chile eine Medaille, Bronze mit dem Team an den Südamerika-Spielen. Ob sie in Paris würde teilnehmen können, stand dennoch lange offen. Erst im Mai schaffte Zeng die Qualifikation für die Olympischen Spiele.
«In meinem Alter muss man mit Freude spielen, nicht mit Angst», sagte die 58-Jährige, die an der Platte eine Defensivkünstlerin ist, vor ihrem Auftritt auf der grössten Bühne, die der Sport zu bieten hat. Sie sei stolz darauf, Chile vertreten zu können. «Ich liebe dieses Land. In China habe ich meinen Traum nicht erreicht, aber hier schon. Es ist wichtig, dass man nie aufgibt.»
Forrest Gump hatte schon recht. Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen.
eine geschichte zum träumen......!