«Er war so betrunken, dass er mich küssen wollte»: Odis Biografie gewährt tiefe Einblicke
Die ersten Gedanken beim Anblick von Marco Odermatts mit Spannung erwarteter Biografie. Wo ist die Gebrauchsanleitung? Wo ist das Buch?
Da ist kein Buch. Sondern 10 Hefte und insgesamt 13 Elemente in einer Box, inklusive Tomba, Hirscher oder Stenmark als Karton-Skifahrer und ein Leiterlispiel in Form eines Skirennens. Es ist so etwas wie der gedruckte Gegenentwurf zu TikTok. Seltsam, gewöhnungsbedürftig, aber irgendwie auch genial. Denn welcher jugendliche Fan von Marco Odermatt liest heute noch Bücher?
Im Trend ist, was sich schnell erzählen lässt. Dem tragen die beiden preisgekrönten Autoren Christof Gertsch und Mikael Krogerus sowie die Erfinder des grafischen Konzepts mit ihrer unorthodoxen Biografie-Form konsequent Rechnung. Mit über 100 Fotos und Illustrationen, verschiedensten Erzählformen und Perspektiven, in bunter Folge wechselnden Schriftgrössen und vorab portionengerechten Häppchen, die schneller gelesen sind, als Odi in Kitzbühel die Streif runterbrettert.
Jedes Büchlein hat seinen Titel: Mein Lauberhorn. Mein Daheim. Meine Menschen. Meine Lehrer. Mein Körper. Meine Leidenschaft. Mein Weg. Mein Spiel. Meine Top3. Mein Material. So lauten die Titel. Kaum ein Zufall, dass es in der Reihenfolge zuerst um ein Skirennen geht. Schliesslich kennt man Marco Odermatt, weil er Sportler ist.
Ein Büchlein illustriert, wie Odermatt funktioniert
Ganz zu Beginn lüftet der Skistar ein Geheimnis. Eines, von dem er selbst behauptet, «wenn meine Konkurrenten dies lesen würden, wären sie so schnell wie ich». Es ist in einem Werk, in welchem die Bescheidenheit des Hauptdarstellers und seines Umfelds zelebriert wird, eine der ganz wenigen Passagen, wo ein wenig übertrieben wird.
Aber die Dramaturgie mit dem Geheimnis als Knaller am Küchentisch lässt es nicht anders zu. Marcos Geheimnis ist ein Notizheft im A5-Format. Seit der Saison 2021/22 führt der Nidwaldner darin akribisch sein Renntagebuch. Er schreibt auf, welches Material er benutzt hat, wie das Rennen verlaufen ist und vor allem, wie er sich dabei gefühlt hat. Odi sagt, wer dieses Büchlein lese, verstehe, «wie ich funktioniere».
Marco Odermatt mag es ordentlich – in allen Belangen des Lebens. Das Tagebuch gestattet ihm, Ordnung in seine Gefühlswelt als Skirennfahrer zu bringen. Er kann mit dem Rennen abschliessen, ohne es zu vergessen. Und in einem Jahr kann er die Stimmung beim Vorjahressieg am Lauberhorn noch einmal aus den Notizen klauben und aufleben lassen.
Der subtile Schalk begleitet ihn bis ins Starthaus
Wenn Odi zuhause am Vierwaldstättersee ist, will er abschalten und nicht ans Skifahren denken. Doch bevor er abschaltet, will er alles erledigt haben. Eine Charaktereigenschaft, die sich ebenso durch die Biografie zieht wie seine wohl grösste Stärke: Sehr schnell zu lernen und fähig sein, Gelerntes umgehend umzusetzen. In diese Lobeshymne stimmen unisono alle ein.
Es sind die spannenden Details der Schilderungen, welche die Leserinnen und Leser in die Welt des Marco Odermatts eintauchen lassen. Etwa, dass bei seinem sich konsequent wiederholenden Rennritual in den letzten vier Minuten vor dem Start nicht mehr geredet wird. Dafür gehört ein Lächeln ebenso zum Erfolgsrezept wie die kurzen Glaubenssätze, die Odermatt in Gedanken spricht, unmittelbar bevor er sich auf die eisige Piste stürzt. «Ich kann das!» gehört zum Standard-Repertoire, «ich bin eh ein geiler Siech!» zur fakultativen Zugabe.
Sportstar Odi als Morgengast in fremder Küche
Prominent ins Bild gerückt werden in der Biografie nicht nur Eltern, Schwester, ehemalige und aktuelle Trainer, sondern auch Marco Odermatts Freundin Stella Parpan. Es ist mit das Erstaunlichste an diesem Werk, denn medial schirmte der beste Skifahrer der Welt seine Lebenspartnerin bislang konsequent ab.
Nun plaudert die Assistenzärztin mehr oder weniger offen über sich, den Freund und ihre Beziehung. Man erfährt, dass Odi den ersten Schritt zur aufkeimenden Liebschaft gemacht hat und welche Stärken der Partnerin er als eigene Schwächen betrachtet: Ihre Spontanität, Kreativität und die liebevolle Art. Sie sagt über die Anfänge ihrer Beziehung: «Meine Mutter, die Marco aus der Zeitung kannte, staunte nicht schlecht, als sie eines Morgens in die Küche kam und er an der Kaffeemaschine stand.»
Eindrücklich aber auch die Schilderungen von Odermatts sportlichem Konkurrenten und persönlichem Freund Aleksander Aamodt Kilde. Der Norweger nimmt die Lesenden noch einmal mit zu seinem lebensbedrohenden Kampf nach dem Sturz in Wengen. Und er antwortet auf die Frage nach einer Anekdote ihrer Beziehung: «In Andorra war Marco einmal so betrunken, dass er versucht hat, mich zu küssen.»
Der Warnruf des Trainers geht durch Mark und Bein
Ernsthafter wird es bei den Schilderungen von Helmut Krug, dem grandiosen österreichischen Riesenslalom-Trainer des Schweizer Weltcupteams. Denn die Biografie widmet sich keinesfalls nur der Heldenverehrung des populärsten Schweizer Sportlers. Es gibt auch Raum für leise Töne und nachdenklich stimmende Passagen.
Für eine Portion Gänsehaut sorgt der sonst so wortkarge Krug: «Marco ist kein Mensch, der jammert. Aber der Junge wird gejagt. Und das über Monate. Ohne Pause. Ohne Leerlauf. Und ich denke mir manchmal: Lasst den doch einfach mal einen Tag in Ruhe. Aber es geht nicht. Weil jeder was will. Und ich weiss, dass er darunter leidet. Weil er es allen recht machen will. Weil er immer funktioniert. Der Junge ist 28 – und trägt ein Pensum, das andere in zehn Jahren nicht stemmen. Und das macht mich traurig. Weil ich weiss, was für ein feiner, kluger, sensibler Kerl das ist. Und ich will nicht, dass er daran kaputtgeht.»
