Das Tor, das den Weg in den Halbfinal öffnet, ist in Entstehung und Vollendung ein Meisterwerk. Lara Stalder, die beste, kompletteste Stürmerin auf dem Eis, spielt den Puck mit perfektem Timing auf den Stock der heranstürmenden Alina Müller, die sich stürzend gegen ihre Gegenspielerin durchsetzt: 3:2. Die Uhr stoppt bei 57 Minuten und 23 Sekunden. Es ist der Sieg. Das 4:2 fällt Alina Müller in den letzten Sekunden dann leichter: ein Treffer ins leere Netz.
Ein Wunder ist eigentlich ein Ereignis, das man nicht für möglich gehalten hat. So gesehen ist diese Halbfinalqualifikation kein Wunder. Weil sie systematisch erarbeitet worden ist und nicht völlig unerwartet kommt. Sie ist der verdiente Lohn für eine Leistung, die in jedes Lehrbuch über die Vorbereitung auf ein Turnier und den Formaufbau während eines Turniers gehört. Aber die Art und Weise, wie die Schweizerinnen in den Halbfinal gekommen sind, hat etwas Wundersames. Wir dürfen also schon von einem Hockey-Wunder reden.
Nie zuvor in der Geschichte unseres Hockeys ist ein Team in so kurzer Zeit einen so weiten Weg gegangen. Wollte man die Steigerung der Schweizerinnen vom 1:12 gegen Kanada bis zum 4:2 gegen Russland in einer Wegstrecke erklären – es wäre die Strecke von Zürich nach Peking. Noch nie in der Geschichte hat sich ein Schweizer Team in einem Turnier so gesteigert und exakt am «Tag X» die Bestform erreicht.
Die Schweizerinnen beginnen das Turnier am 3. Februar mit einer verheerenden Niederlage gegen Kanada (1:12). Nichts passt zusammen. Die nächsten zwei Spiele gegen Russland (2:5) und die USA (0:8) sind nicht viel besser. Doch dann in der letzten Vorrundenpartie eine klare Steigerung und der erste Sieg. 3:2 gegen Finnland. Im Viertelfinal gegen Russland gelingt schliesslich am 12. Februar ein nahezu perfektes Spiel. Sozusagen in neun Tagen von null auf hundert.
Die Fehler werden im Viertelfinal gegen Russland auf jenes Minimum reduziert, das bei einem so unberechenbaren Spiel eben möglich ist. Die Konzentration geht nie verloren. Auf Rückschläge (zweimal gleichen die Russinnen aus) folgt zügig, aber ohne Hast, eine Reaktion.
Am eindrücklichsten in der dramatischen Schlussphase: Russland gleicht durch ein Eigentor (!) zum 2:2 aus (56:53). Die tapfere, starke Torfrau Andrea Brändli wischt den Puck ins eigene Netz. 30 Sekunden später trifft Alina Müller zum 3:2.
Nur ein einziges Mal droht die Partie zu kippen. In der 47. Minute gelingt den Russinnen das 2:1. Die Schweizerinnen sind ausgerechnet in der Schlussphase zum ersten Mal in den Rückstand geraten.
Aber der Puck ist von ausserhalb des Eisfeldes bei der Spielerbank der Schweizerinnen aufs Eis zurückgeprallt. Auf Verlangen von Cheftrainer Colin Muller konsultieren die Schiedsrichterinnen das Video und annullieren den Treffer. Im nächsten Einsatz trifft Dominique Rüegg zum 2:1 (47:31).
Drei Spielerinnen ragen aus einem starken Kollektiv heraus: die Verteidigungsministerin Lara Christen, die in allen Situationen cool bleibt und die Pässe mit der Präzision einer Landvermesserin spielt. Dazu Lara Stalder und Alina Müller, die beiden bilden, wenn sie gemeinsam stürmen, eines der besten Duos des Turniers. Lara Stalder ist die überragende Spielmacherin: dominant in allen drei Zonen, läuferisch und stocktechnisch exzellent und dazu in der Lage, ihre Mitspielerinnen besser zu machen.
Alina Müller ist die smarte, coole Vollstreckerin, die auf ihre Ideen einzugehen vermag. Ihr Treffer zum 3:2 auf Pass von Lara Stalder: Weltklasse. Sechs der neun Tore der Schweizerinnen in diesem Turnier gehen auf das Konto dieses Duos. Alina Müller (3 Tore / 5 Assists) ist vor Lara Stalder (3/3) Topskorerin des Teams.
Nun brauchten die Schweizerinnen in zwei Spielen noch einen Sieg für eine Medaille. Wie ist dieses Hockey-Wunder möglich geworden? Lara Christen erklärt es so: «Wir haben nie das Ziel aus den Augen verloren. Wir wussten, dass wir uns verbessern müssen.»
Wissen ist eines. Daran glauben etwas anderes. Sich durch drei Niederlagen hintereinander nicht verunsichern lassen und schliesslich im alles entscheidenden Spiel die beste Leistung abrufen: das ist eine Meisterleistung.
Cheftrainer Colin Muller, einst in Zug ein Spieler mit Kultstatus (im Meisterteam von 1998) und dann über Jahre der Weggefährte von Sean Simpson (Silber-WM 2013) ist so etwas wie eine Vaterfigur. Seine immense Erfahrung und seine Ruhe spielen eine zentrale Rolle. Er spricht von einem permanenten Lernprozess. Sein Team ist das jüngste im Turnier, Lara Christen, die Architektin der Defensive, die am meisten Eiszeit schultert (23:14 Minuten pro Partie), ist erst 19.
Die Lehren aus der Vergangenheit können nun eine Medaille bringen. Colin Muller sagt vor dem Halbfinal gegen Kanada: «Wir haben diese Erfahrung schon einmal bei der WM 2020 gemacht. Bereits bei der Vorbereitung im August war allen klar, dass der Viertelfinal das alles entscheidende Spiel sein wird. Als wir dann gegen Russland die Halbfinal-Qualifikation schafften, war die Euphorie so gross, dass wir den Boden unter den Füssen und die Konzentration verloren und den Halbfinal und das Spiel um Bronze verloren. Das darf uns jetzt nicht mehr passieren.»
Und das 3:2 war nun echt der Hammer.
Dass sie aber die USA oder Kanada schlagen das wäre dann schon ein Wunder. Aber auch solche gibt es. Man denke an das Wunder von Lake Placid, als die US Boys die Sowjets schlugen. Miracle on Ice, unvergessen. Auch der Film darüber ist sehenswert.