Die Umstände sind ganz andere. Berlin war die getrennte Stadt in der Zeit des Kalten Krieges. Hier standen sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis im November 1989 zwei Machtblöcke und zwei Ideologien gegenüber. Der von den USA angeführte, kapitalistische Westen und der von der Sowjetunion dominierte sozialistische Ostblock. Getrennt durch den «Eisernen Vorhang» (aus der Sicht des Westens) beziehungsweise durch den «Antikapitalistischen Schutzwall» (aus der Sicht des Ostens). Jeder legale Grenzübertritt für den Reisenden ein Abenteuer.
Was in Berlin ein dramatisches Kapitel Weltgeschichte war, das ist hier in Peking bloss eine Episode. Es geht lediglich um die kurzzeitige Isolation der olympischen Welt. Nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus ganz praktischen: Die Menschen sollen drinnen und draussen vor dem Coronavirus geschützt werden.
Die Grenzen, die die Inseln des «Archipels Olympia» vom Rest der Welt trennen, werden lückenlos überwacht. Niemand kommt unbemerkt hinein, niemand unbemerkt hinaus. Nur so ist es möglich, in Zeiten der Pandemie das Risiko im Griff zu haben: Menschen aus über 150 Ländern werden für die Olympischen Spiele in eine Metropole mit mehr als 20 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern eingeflogen. Jeder Kontakt der Gäste mit den Einheimischen soll verhindert werden.
Die Grenzen spürt der Chronist im olympischen Alltag kaum. Denn er muss beim Übertritt keine Dokumente vorweisen, keine Formulare ausfüllen, kein Geld wechseln, keine Fragen beantworten.
Das Tor wird geöffnet. Der Bus verlässt eine hermetisch abgeriegelte Insel (wie das Areal des Hotels) im Schritttempo und fädelt in den Strassenverkehr ein. Der Bus ist jetzt so etwas wie eine Raumkapsel, die durch eine Welt rollt, die wir nicht betreten dürfen. Die Fahrt wird beim Wiedereintritt in die nächste Insel (dem Stadion) wiederum auf Schritttempo verlangsamt. Damit die Strassensperre geöffnet werden kann. Das ist alles. Keine Kontrollen. Die Grenzübertritte erfolgen beinahe unbemerkt.
Und doch: Mitten in einer Millionenstadt werden einzelne Inseln hermetisch abgeriegelt. Strassenzüge, Wege und Stege, Verbindungen, ja ganze Gebiete, die wohl über Jahrzehnte gewachsen sind, werden durchtrennt. Nicht bloss für eine Durchfahrt einer Etappe der Tour de Suisse oder wegen einer Demo. Sondern während mehr als sechs Wochen. Tag und Nacht. 24 Stunden. Und niemand, wirklich niemand, darf ohne Bewilligung diese Grenze überschreiten. Die Ansteckungsgefahr kann nur durch hermetische Grenzschliessung eingedämmt werden.
Eine immense logistische Herausforderung. Sie würde die Behörden in Zürich oder Bern, ja wohl in jeder europäischen Stadt, mit ziemlicher Sicherheit völlig überfordern.
Das ist die Parallele von Peking 2022 zur geschlossenen Grenze in Berlin. Wenigstens wirken die Grenzen zum «Archipel Olympia» nicht bedrohlich wie damals die Berliner Mauer. Und schon gar nicht wie die andere undurchdringliche Grenze, die, anders als Berlin, noch nicht Geschichte ist. Die Grenze zwischen Nord- und Südkorea.
Die olympischen Grenzen wirken friedlich. Kein Stacheldraht. Keine Mauern. Keine Sandsäcke. Keine bewaffneten Soldaten. Es will ja niemand die Grenzen der Inseln des «Archipels Olympia» ohne Bewilligung überwinden.
Eigentlich ist so eine abgesperrte Strasse unter normalen Umständen nicht der Rede oder einer philosophischen Betrachtung wert. Aber hier sorgt eine breite, permanent abgeriegelte Strasse mitten in einer Stadt eben doch ein wenig für ein beklemmendes Gefühl. Fast (aber nicht ganz) wie damals in Berlin. Oder an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea.
Der Anblick dieser Abschrankungen mahnt den Betrachter daran, dass Peking 2022 ein Sportereignis ist, das es so noch nie gegeben hat und wohl nie mehr geben wird. Dass die Welt nicht mehr so ist, wie sie einmal war. Und niemand weiss, wann die Welt wieder so sein wird, wie sie einmal war. Grenzerfahrungen eines altmüden Chronisten.
Sie erinnern ihn auch daran, dass er vor den Marsmenschen nach wie vor nicht sicher sein kann.