Die Dominanz der so genannten «Big 4» bröckelt bereits seit einigen Monaten. Im Januar schlug Stan Wawrinka beim Australian Open ein grosses Loch in die lange unüberwindliche Mauer, als erstmals seit 2009 (Juan Martin Del Potro am US Open) nicht einer aus dem Quartett Roger Federer, Rafael Nadal, Novak Djokovic und Andy Murray einen Grand-Slam-Titel gewann.
In den Wimbledon-Halbfinals von heute geht dieser Angriff auf die Festung weiter, wenn Djokovic und Federer von Grigor Dimitrov (ATP 13) respektive Milos Raonic (ATP 9), beide 23-jährig, herausgefordert werden.
Zwei Statistiken sprechen für einen klaren Erfolg Federers gegen Raonic. Erstens hat der Schweizer seine bisherigen acht Halbfinals in Wimbledon alle gewonnen – und dabei einzig vor zwei Jahren gegen die damalige Weltnummer 1 Djokovic einen Satz verloren. Zum andern hat er auch alle vier Duelle mit dem Kanadier für sich entschieden, wenn auch meistens knapp.
Das wird diesmal kaum anders. Raonic hat in diesem Jahr bereits 550 Asse geschlagen, alleine in den fünf Partien in Wimbledon 147 (Federer 63). Breaks werden also eine Seltenheit sein. Da müsste dem 32-jährigen Basler eine weitere Statistik Hoffnung machen: In fünf Tiebreaks in seinen Wimbledon-Halbfinals seit 2003 ist er noch ungeschlagen – und auch gegen Stan Wawrinka im Viertelfinal gewann er im zweiten Satz eine eminent wichtige Kurzentscheidung.
Raonic spielt hingegen seinen ersten Halbfinal überhaupt auf Grand-Slam-Stufe. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines grandiosen Aufstiegs des kanadischen Tennis. Die «Ahorn-Blätter» brillieren ansonsten fast nur in den diversen Eissportarten, doch Raonic und Eugenie Bouchard sorgen nun auch mit Rackets für Furore.
Im vergangenen Jahr führte der in Montenegro geborene Raonic das Davis-Cup-Team in den ersten Halbfinal überhaupt (Niederlage gegen Serbien), in Wimbledon erreichte die Québecerin Bouchard als erste Kanadierin den Halbfinal, Raonic als zweiter nach Robert Powell 1908 (!).
Raonic kam im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern aus Titograd (das heutige Podgorica) nach Kanada. «Meine Eltern waren hoch qualifiziert (beide Ingenieure mit Universitätsabschluss; d. Red.), aber in Montenegro lebten wir in einem winzigen Apartment mit den Grosseltern», erzählt der Fan des FC Barcelona und der Toronto Maple Leafs.
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— Roger Federer Book (@FedererBook) 2. Juli 2014
«In Kanada erhielten wir die Möglichkeit zu einem komfortablen Mittelklasse-Leben in einem Vorort von Toronto.» Der Bruder und die Schwester sind mittlerweile wieder nach Montenegro gezogen, und auch Milos Raonic besucht seine ursprüngliche Heimat oft.
Ein Nationenwechsel ist für ihn jedoch kein Thema. «Ich glaube, es gibt nicht viele Orte auf der Welt, die einem eine solche Chance geben wie Kanada», sagt er. «Dafür bin ich sehr dankbar.» Heute möchte Roger Federer allerdings verhindern, dass diese Dankbarkeit Raonic als ersten Kanadier in einen Wimbledon-Final führt.
Doch dieser gibt sich selbstbewusst. «Ich will die Nummer 1 werden», sagt er ohne Umschweife. Ein erster Schritt dazu wäre, den König von Wimbledon zu eliminieren. (pre/si)