Warten mit Stil und Rasentennis. Es gibt nicht viel, das besser zu britischer Kultur passt. Ob an der Bussstation, im Kino oder am Kiosk: Nirgends werden schönere Warteschlangen gebildet als im Vereinigten Königreich. Es gibt kein Drängeln und es herrscht Ordnung. In Wimbledon – einem Mekka für Tradition – wird diese Kultur jährlich zelebriert.
Tickets für die ganz grossen Sportevents sind heute für «Normalsterbliche» kaum mehr erreichbar. Entweder man braucht extrem viel Glück bei einer Ticket-Lotterie, gute Beziehungen zu Sponsoren, die Tickets vergeben oder ein dickes Portemonnaie, um die überrissenen Preise von Wiederverkäufern im Internet oder auf dem Schwarzmarkt zu bezahlen. Und Spontanbesuche sind sowieso kaum möglich. Wer Tickets für das WM-Endspiel in Brasilien wollte, musste sich schon 2013 darum bemühen.
Anders läuft dies in Wimbledon beim Grand-Slam-Turnier. Bis zu den Viertelfinals werden für den Centre Court und den Court 1 täglich je 500 Tickets der besten Kategorie an der guten alten Tageskasse verkauft. Wer so ein Ticket will, braucht vor allem eines: Geduld. Ganz viel Geduld.
watson machte den Selbsttest und versuchte Tickets für den Centre Courts am Mittwoch zu ergattern:
Am Montagabend fliege ich nach London, die Schlafstelle habe ich kurz davor via Airbnb gebucht. Am frühen Dienstagmorgen mache ich mich um 6 Uhr auf den Weg. Beladen mit Rucksack und Zelt kaufe ich mir im 24-Stunden-Shop Verpflegung für zwei Tage und eile durch die noch leeren Strassen. Obwohl praktisch niemand unterwegs ist, habe ich keine Zeit zu verlieren. Denn wer weiss schon, wie viele Leute schon in der «Queue» warten?
Als ich um 7 Uhr den Wimbledon Park erreiche, werde ich von Stewards zur «Q-Fahne» gewiesen. Sie markiert das Ende der «Queue». Ich erhalte eine 16-seitige kleine Broschüre mit allen Regeln und Verhaltensweisen in der Warteschlange und meine Queue-Card: Nummer 2302.
2301 Personen sind also vor mir vor Ort gewesen und stehen ordentlicher als es sonst irgendwo möglich wäre in verschiedenen rund 200 Meter langen Kolonnen an. 1927 wurde die «Queue» erstmals erwähnt, als 2000 Leute abgewiesen werden mussten. Es standen im Verlaufe der Jahre immer mehr Leute an. Irgendwann campierten die ersten auf dem Trottoir vor dem Tennisclub, irgendwann waren die Massen zu gross.
Seit einigen Jahren haben die Veranstalter alles neu organisiert. Unzählige Stewards (185 während dem ganzen Turnier) sorgen in Freiwilligenarbeit dafür, dass mit Stil gewartet wird. Viele davon gehören der Organisation Honorary Stewards an, welche in London immer wieder bei Grossanlässen aushelfen und seit 1950 als Verein organisiert sind. Die Queue-Cards sorgen dafür, dass nicht gedrängelt wird. Übertragbar sind diese nicht. Anstehen für Freunde geht nicht, Plätze reservieren ebenfalls nicht. Wer ein Ticket haben will, muss anstehen. Von Anfang an.
Erst bin ich enttäuscht. Nummer 2302 reicht niemals für einen der grossen Courts. Doch bald stellt sich heraus. Die Nummer ist für den aktuellen Tag. Ich aber will erst am Mittwoch, also einen Tag später, auf die Anlage. Ich werde in eine andere Wartezone verwiesen. Vor mir reihen sich bereits unzählige Zelte.
Nach gut zwei Stunden warten organisieren die Freiwilligen die Wartenden neu. Jeder wird gemäss seiner Nummer eingereiht. Ich schaffe es gerade noch in die zweite Kolonne, circa 70 Zelte stehen vor mir, rund 15 werden hinter mir aufgeschlagen. Alle Eingänge in die gleiche Richtung, das Ende des Zeltes darf die weisse Linie nicht überschreiten.
Vor mir campieren eine Schottin mit ihrer Mutter, grad nach mir ein Peruaner und ein Australier, die ein Jahr in England studieren, dahinter zwängen sich drei Chinesen in ein Zweierzelt. Wir haben nur eine Frage: Sind wir noch in den Top 500 oder waren wir zu spät? Ein Steward kommt vorbei und beruhigt unsere Nerven etwas: «Normalerweise reicht es, wenn man in den ersten zwei Reihen steht. Aber die definitiven Zahlen werden erst am Abend bekannt gegeben.» Wenig später kommen zwei Freiwillige vorbei, notieren die Farbe des Zeltes und das Geschlecht der jeweiligen Bewohner.
Die «Queue» ist hervorragend organisiert. Es stehen genügend Toiletten zur Verfügung, überall hängen Abfallsäcke (getrennt nach wiederverwertbaren Abfällen!), es hat einen Wasserhahn zum Füllen der Getränkeflaschen, ein Stand verkauft Kaffee, einer Glace, ein anderer Burger und Getränke. Immer wieder patrouillieren Freiwillige und sorgen für Ordnung. Eigentlich darf man nur mit Erlaubnis dieser Helfer aus der Schlange treten. Doch wie Warten wird sich der ganze Tag nicht anfühlen. Es ist mehr ein «Tag im Park bei herrlichem Sonnenschein».
Vor der Abreise habe ich noch drei Bücher auf meinen E-Reader geladen. Ich lese gerade mal rund 20 Seiten. Denn schnell schliesse ich Bekanntschaft mit meinen unmittelbaren Nachbarn. Sie kommen aus der ganzen Welt. Sind erstmals hier oder kommen seit 20 Jahren immer wieder.
Die Schottinnen haben Bowls (Boccia) mitgebracht und rufen zu den Bowls World Championships auf. Es sei kurz erwähnt: Ich hole den Titel vor England, Schottland, Australien und Peru für die Schweiz. Einige spielen Karten, andere Tennis, einer hat einen Fussball mitgebracht. Innert kurzer Zeit jagen sechs Spieler ohne Shirt gegen sechs mit Shirt dem Ball nach. Innert Minuten wächst das Spiel zu einem ca. 15 gegen 15 an, bis die Stewards alle zurück zu ihren Zelten rufen. Denn jetzt gilt es ernst: Die definitiven Queue-Cards werden verteilt.
Gemäss der vorher erstellten Liste werden jetzt also die Plätze vergeben. Die Freude ist gross, als ich die Nummer 352 erhalte – Centre Court ich komme! «Guard it with your life» (beschütze die Karte mit deinem Leben) höre ich immer wieder. Jetzt müssen nur noch Roger Federer und Stanislas Wawrinka ihre Achtelfinals gewinnen und das Duell ist perfekt. Wenig später tritt dies ein. Zudem werden Andy Murray und Grigor Dimitrov sowie Simona Halep und Sabine Lisicki dem Centre Court zugewiesen – es wird ein Traumtag. Da jetzt der Platz gesichert ist, «schleichen» wir uns ins nächste Pub, um die Partie Schweiz – Argentinien zu schauen. Den Zeltnachbarn haben wir die Handynummer gegeben. Falls etwas ist, reicht eine Mitteilung und wir sind in fünf Minuten zurück.
Wie erwähnt, ist es eigentlich nicht erlaubt, die Schlange zu verlassen. Doch viele gehen kurz in die Stadt einkaufen oder Fussball schauen. Natürlich immer unter dem «Deckmantel» der Nachbarn, die notfalls Alarm schlagen, falls man schnell zurückkommen muss. Die Schottin vor mir tauscht ihre Mutter am Abend durch ihren Freund aus. Doch auch die Platzhalter-Mutter hatte ihren Tag genossen. Jetzt ist sie froh, muss sie morgen nicht auch noch Tennis schauen gehen.
Einige bestellen Pizza als Nachtessen, einer hat ein iPad dabei, so dass wir das zweite WM-Spiel per Livestream verfolgen können. Getrunken wird nicht viel, denn wer besoffen ist, fliegt aus der «Queue». Wie gesagt, es geht um Anstehen mit Stil. Laute Musik ist nicht erlaubt, um 22 Uhr ist Nachtruhe. Wir müssen den Ton des Fussball-Spiels ausschalten. Um 23 Uhr sind alle im Zelt.
Die Nacht wird kurz. Einige sind schon um 4 Uhr wach und zudem füllt sich das Areal mit den neuen Tagesgästen. Um 5.30 Uhr werden auch die letzten von den Freiwilligen aus den Zelten gerüttelt. Aufräumen, Zelte bei der Gepäckabgabe deponieren und dann zusammenrücken in der Schlange.
Um 7 Uhr werden wir Richtung Gate 3 der Tennisanlage geführt. Dort werden die Armbänder verteilt. Die ersten 500 ein pinkfarbenes für den Centre Court, die zweiten ein blaues für Court 1, der Rest ein hellblaues Band. Jetzt geht es langsam vorwärts. Durch den Sicherheitscheck und schon stehe ich an der Tageskasse. Das Ticket muss bar bezahlt werden und drin bin ich. Fast 30 Stunden nachdem ich am vorherigen Tag in die Warteschlange trat.
Wann man für die ersten 500 Plätze anstehen muss, ist täglich unterschiedlich. Die Nummer 1 in der Warteschlange kam am Freitagabend, also fünf Tage vor dem Spieltag, die Nummer 63 am Sonntagmittag, Nummer 202 am Montagabend, ich mit meiner 352 am frühen Dienstagmorgen, die Nummer 500 am Dienstag um 9.30 Uhr. Für die Leute aus der «Queue» werden nicht irgendwelche billige Plätze oben links reserviert, nein, wir sitzen alle beisammen in zwei der besten Sektoren gleich hinter den Spielerbänken.
Ich habe einen Platz in Reihe 8. Und da ich viele Gesichter um mich herum in den letzten Tagen immer wieder sah, mit ihnen spielte, plauderte oder einfach wartete, fühlt es sich an, als ob ich mit einigen Freunden gerade mitten im Centre Court von Wimbledon sitze und irgendwie das halbe Stadion kenne, während Murray, Federer und Wawrinka spielen. Kleine persönliche Highlights sind zudem, als ich es zweimal schaffe, als allererster der über 10'000 Zuschauern das rhythmische Klatschen bei Hawk-Eye-Entscheidungen anzufangen.
Weil die Spiele auf dem Centre Court schneller beendet sind, als jene auf Court 1, können wir danach unsere Tickets noch umtauschen und sehen die letzten beiden Sätze zwischen Milos Raonic und Nick Kyrgios live. Um 20.30 Uhr ist der Tag zu Ende. Ich hole das Gepäck ab, falle todmüde ins Bett meiner Unterkunft und stehe am nächsten Morgen um 4.45 Uhr auf, um den Heimflug zu erwischen. Die Arbeit wartet.
Wimbledon ist einfach nur gigantisch. Mit wildfremden Leuten einen Tag zu warten, ist ein einmaliges Erlebnis, das ich – so doof es sich auch anhört – jedem empfehlen kann. Bekanntschaften sind schnell geschlossen und die «Queue» schweisst innert kurzer Zeit zusammen.
Die «Queue» ist sicherlich die coolste Schlange der Welt. Doch sie fordert auch ihren Tribut. Nicht wenigen ist im Stadion das Schlafmanko anzusehen, die Hitze trägt ihren Teil bei und sie nicken zumindest kurzzeitig ein. Falls ihr also bei einem nächsten Wimbledon-Match Leute auf besten Plätzen dösen seht – die haben sich jede Sekunde Schlaf sowie den Platz redlich verdient und dürfen sich kurz erholen.