» Der Liveticker von Stan Wawrinkas Sieg gegen Jo-Wilfried Tsonga zum Nachlesen
Dagegen war die Eröffnung des Finals von 1992 im Dezember zwischen den USA und der Schweiz in Fort Worth ein Kindergeburtstag. Damals wurde unten in Texas irgendein Tennisevent veranstaltet. Einen emotionalen nationalen Gefühlsnotstand provozierte dieser Final damals nicht. Die Schweiz war ja auch krasser Aussenseiter und Namen wie Marc Rosset oder Jakob Hlasek kannte ein Durchschnittsamerikaner nicht.
Die Amis wurden von den rund 1500 angereisten Schweizer Fans, die mit Kuhglocken die Stimmung befeuerten, am ersten Tag völlig überrascht. Patriotische Aufrufe in den Lokalzeitungen sorgten dann ab dem zweiten Tag doch noch für Stimmung und darüber hinaus wurden eiligst mehr als 10'000 US-Fähnchen an die Fans verteilt.
Jetzt ist alles ganz anders: Ausnahmezustand in Lille, der alten Handels- und Industriemetropole, in der am häufigsten belagerten Stadt der Geschichte Frankreichs. Nein, wir leben heute in friedlichen Zeiten, die Deutschen sind nicht mehr im Anmarsch. Die Schweizer sind da – eine friedliche Invasion. Ein Sportfest.
Aber der Patriotismus der Franzosen ist leidenschaftlich. Und doch ist es nicht einfach ein Heimspiel. Die rund 3000 Schweizer Fans, auf vorzüglichen Plätzen ganz unten zusammengefasst, halten stimmungsmässig mit und machen praktisch gleich viel Lärm wie die mehr als 20'000 Franzosen. Ganz nebenbei wird auch noch ein Tennis-Zuschauerweltrekord gefeiert: 27'432 Fans sitzen im Multifunktionsstadion.
Und so stellt sich der Chronist, der in die Arena geraten ist, die Frage: Tennis oder Rockkonzert? Wimbledon scheint in jeder Beziehung so weit weg wie das legendäre Harley-Treffen im amerikanischen Sturgis vom Nürnberger Christkindlesmarkt. So wie dieses Finale zwischen Frankreich und der Schweiz ist noch kein Endspiel um den Davis Cup angeheizt worden. Die lokale Rockband Skip the Use heizt die Stimmung an. Die Akustik ist exzellent. Es ist ein Wunder, dass nicht noch die Gitarren auf der kleinen Bühne zertrümmert werden. Frontmann Mat Bastard tanzt und hüpft und hopst auf der Bühne herum, als wolle er mit einem Voodoo-Zaubertanz die Schweizer verhexen.
Ein Gespräch ist fast nicht möglich, weil der Nebenmann nicht zu hören ist. Tennis? Nein, ein Rockkonzert der gröberen Sorte. Schliesslich kommt Mat Bastard auf den Platz herunter, um abwechselnd die Franzosen und die Schweizer zum Lärmmachen anzuheizen. Gemessen an der Tenniskultur ein Inferno.
Erst bei der Vorstellung der Teams sinkt der Lärmpegel mehr oder weniger auf Tennis-Zimmerlautstärke. Die Rockmusik wird durch Klavierspiel abgelöst. Die Nationalhymnen werden von der lokalen Militärmusik vorgetragen. Ein bisschen schwermütig unsere Hymne. Leidenschaftlich singen die Franzosen die Marseillaise mit.
Aber die Tenniskultur ist nicht in Gefahr. Der Respekt vor den Helden in den kurzen Hosen ist viel zu gross. Und keiner bekommt bei der Kurzvorstellung der Spieler so viel Applaus wie Roger Federer. Er steht über allem und die Franzosen verehren und respektieren ihn wie die eigenen Legenden. Und es gelingt tatsächlich, Sitten und Anstand zu wahren. Wenn aufgeschlagen wird, wenn die Bälle hin und her gespielt werden, ist Ruhe. Wie wenn mit einem Schalter der ganze Lärm ausgeknipst würde. Aber sobald der Punkt gewonnen ist, braust der Jubelsturm durch die Arena. Lärm aus, Lärm an, Lärm aus, Lärm an – so etwas hat es im Sport noch nicht oft gegeben.
Dieses halbierte Fussballstadion mit geschlossenem Dach ist ohnehin eine seltsame Arena. Ziemlich genau in der Mitte ist das Stadion durch schwarze Tücher abgetrennt. Nur eine Hälfte wird für den Davis Cup gebraucht. Das halbe Rund des Stadions und die in der Platzmitte aufgestellte Tribüne umschliessen den Sandplatz. Und so ist diese Wettkampfstätte, gemessen an der nun halbierten Grundfläche, eigentlich viel zu hoch und wirkt dadurch noch eindrücklicher. Sie hat irgendwie etwas von einer Kathedrale. Halb oben sind Wärmelampen aufgehängt wie rötlich schimmernde Kronleuchter. Und so ist es jetzt bis halb hinauf in den Zuschauerrängen angenehm warm. Aber oben, über den Wärmelampen, ist es winterlich kalt, kaum zehn Grad und es zieht. Sozusagen ein reziprokes Nebelmeer.
Warm und kalt im gleichen Stadion. Durchaus symbolisch für das erste, so wechselvolle Drama auf dem Platz zwischen Stan Wawrinka und Jo-Wilfried Tsonga.